„Bei der Denkart der Juden darf es nicht wundern, dass diese volksfremden Elemente außer Land gehen, da ihnen nun endlich auch in Österreich der Boden für Nichtstun und Gaunerei entzogen ist.“ Diese Zeilen standen am 18. März 1938 im Vorarlberger Tagblatt. Der „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland zeigte rasch seine Wirkung. Zahlreiche Juden mussten fliehen, viele führte ihr Weg in die Schweiz. Doch im August 1938 machten die Schweizer Behörden die Grenzen dicht. Ein ranghoher Polizist widersetze sich. Heute erinnern die Paul-Grüninger-Schule in der Franz-Hanreiter-Gasse in Wien-Floridsdorf und das Paul-Grüninger-Stadion des SC Brühl in St. Gallen an ihn.
Erwägungen der Menschlichkeit
Kurz vor der Grenzschließung trafen sich die schweizerischen Polizeidirektoren zu einer Konferenz. Heinrich Rothmund, der Chef der Polizeiabteilung, sagte dort, dass man die Juden hier „ebenso wenig brauchen könne wie in Deutschland“. Bei dieser Sitzung trat Paul Grüninger, der St. Galler Polizeikommandant, zum ersten Mal groß in Erscheinung. Der Historiker Stefan Keller zitiert in seinem Buch „Grüningers Fall“ dessen Stellungnahme aus dem Konferenzprotokoll: „Die Rückweisung der Flüchtlinge geht schon aus Erwägungen der Menschlichkeit nicht. Wir müssen viele hereinlassen.“ Grüninger erhielt kaum Unterstützung. In der Pressemitteilung war von den wenigen abweichenden Äußerungen nichts zu lesen. Die Schließung der Grenze erfolgte schon am darauffolgenden Tag.
Als Polizeikommandant des Grenzkantons St. Gallen war Grüninger von der Situation besonders betroffen. „Durch sein Amt hatte er aber auch die Möglichkeit, vielen Juden zur Flucht zu verhelfen“, sagt Paul Rechsteiner dem ballesterer. Der sozialdemokratische Politiker war maßgeblich an Grüningers Rehabilitierung beteiligt. Der Polizist wurde 1939 vom Dienst suspendiert, weil er Anweisungen missachtet und Gesetze verletzt hatte. Um Juden und andere Flüchtlinge zu retten, hatte er Einreisedokumente gefälscht. Grüninger erhielt auch später keine feste Anstellung mehr, er starb 1972 im Alter von 80 Jahren in Armut. Das St. Galler Tagblatt fasste sein Wirken 2011 wie folgt zusammen: „Paul Grüninger setzte Menschlichkeit über Recht – und büßte dafür.“
Späte Ehrung
Erst 1993 wurde Grüninger politisch rehabilitiert und zwei Jahre später auch juristisch freigesprochen. Die treibende Kraft war Rechsteiner, der auch als Anwalt arbeitet und den Fall Grüninger vor dem Bezirksgericht vertrat. „Ein einmal rechtskräftiges Urteil zu revidieren, ist nicht einfach. Man muss beweisen, dass zu dieser Zeit bereits Gründe vorlagen, die zu einem anderen Urteil hätten führen müssen, ohne dass sie auch damals schon bekannt waren“, sagt er. In diesem Fall bedeutete das darzulegen, dass die großen Risiken für Juden bei einer verweigerten Einreise in die Schweiz bereits gegeben waren, die früheren Richter diese aber nicht vollständig erkannt hatten. Doch nicht nur rechtliche Hürden waren beim Kampf um die Rehabilitierung zu nehmen. „Zwar hat sich nie jemand öffentlich gegen Grüninger ausgesprochen“, sagt Rechsteiner. „Aber im Verborgenen wurde aktiv dagegen gearbeitet, ihn zu rehabilitieren.“
Das war auch der Fall, als der heutige Drittligist SC Brühl sein Stadion zu Grüningers Ehren umbenennen wollte. Den Bezug des Polizeikommandanten zum St. Galler Verein hatte der Journalist Richard Zöllig wiederentdeckt. Der wohl berühmteste Brühler, wie Zöllig den Fluchthelfer im Gespräch mit dem ballesterer nennt, war zweimal Präsident des Klubs und stand als Flügelstürmer für ihn am Platz. Er war Teil jener Mannschaft, die 1914/15 den einzigen Meistertitel in der Klubgeschichte holte. Als Zöllig für einen Buchbeitrag die Geschichte Grüningers aufarbeitete, baute der SC Brühl sein Stadion gerade um. Der Journalist sah die Chance gekommen, die Renovierung der Sportanlage Krontal, wie sie damals hieß, mit einer Umbenennung zu kombinieren. Die Klubleitung war einverstanden und stellte im Spätherbst 2005 bei der Stadt als Besitzerin des rund 4.000 Zuschauer fassenden Stadions einen Antrag. „Wir haben gedacht, das sei bloß Formsache“, sagt Zöllig, der in jenen Jahren auch im Vorstand des Vereins saß. Es war mehr. Die Stadt lehnte den Antrag ab. „Vermutlich hatten im Hintergrund die gleichen Kräfte gewirkt, die 1993 schon die politische Rehabilitierung Grüningers verhindern wollten.“
Derby im Grüninger-Stadion
Dann kam den Brühlern der Zufall zu Hilfe. Im Westen baute der größere Verein der Stadt, der FC St. Gallen, gerade sein neues Stadion. Als der Klub bekannt gab, die Namensrechte zu verkaufen, sah man in Brühl eine Chance gekommen. „Die Stadt konnte der Öffentlichkeit nicht erklären, warum ein Verkauf der Namensrechte möglich ist, eine Umbenennung zu Ehren einer für Verein und Gesellschaft verdienten Person aber nicht“, sagt Zöllig. Daran änderte auch nichts, dass das Stadion des FC St. Gallen nicht im Besitz der Stadt war. Zu oft hatte die öffentliche Hand dem Verein unter die Arme gegriffen. Tatsächlich lenkten die Behörden ein.
Bei der Eröffnung im Mai 2006 prophezeite der Architekt des Stadions, Markus Buschor, dem Verein ungeahnte Höhenflüge. So sollte es auch kommen. 2011 schafften es die Brühler sogar in die zweithöchste Liga. Weil gleichzeitig der FC St. Gallen in diese Liga abgestiegen war, kam es zum ersten Mal seit rund 40 Jahren wieder zu einem Stadtderby. „Es war unser erklärtes Ziel, den Verein wieder auf die sportliche Landkarte zu bringen“, sagt Zöllig – ganz im Sinne des ehemaligen Klubpräsidenten Paul Grüninger.