3:2 gewann die englische Nationalmannschaft Ende März gegen Deutschland in Berlin, es war das 34. Aufeinandertreffen der beiden Mannschaften. Würde es immer nach dem Deutschen Fußball-Bund gehen, wäre es sogar schon die 35. Begegnung gewesen. Doch das für den 20. April 1994 im Hamburger Volksparkstadion angesetzte Spiel fand nicht statt. Bei der Terminfindung war offenbar niemand im DFB über das Datum gestolpert, obwohl es viele der Funktionäre noch als besonderen Tag erlebt haben dürften: An einem 20. April wurde Adolf Hitler geboren. Dass die Spielansetzung an diesem Datum problematisch sein könnte, wurde dem damaligen DFB-Präsidenten Egidius Braun nach eigener Aussage erst im November zuvor bewusst. Bei einem Besuch im Volksparkstadion habe eine Fangruppe den Hinweis gegeben. „Bis dahin hat bei uns niemand an Politik gedacht“, wird Braun in einem Spiegel-Artikel zitiert.
Kein Hirngespinst
Die Verbindung zwischen Politik und Fußball hatten die Fans des FC St. Pauli schnell gezogen, sie mobilisierten gegen die Länderspiele in Hamburg. Schließlich sollte am 19. April auch ein B-Länderspiel, also ein Match der beiden Reserveteams, im Millerntorstadion stattfinden. „Wir werden es nicht zulassen, dass an diesem Abend unser Millerntor zur mediengerechten Bühne prügelgeiler Faschisten, ob deutsch oder englisch, umfunktioniert wird“, schrieb der Übersteiger Ende 1993. Sven Brux, heute Sicherheitsbeauftragter des Klubs, war damals Redakteur des Fanzines. „Das war ja ein realistisches Szenario und kein Hirngespinst linker Spinner“, sagt er.
Die Gegner des Länderspiels verwiesen auf die politische Situation in Deutschland: auf Brandanschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte und rassistische Angriffe in den Städten, auf Affenrufe und antisemitische Parolen in den Stadien. Im Ligafußball hatte die Diskussion um Diskriminierung dank des Engagements schwarzer Spieler wie Souleyman Sane und Anthony Baffoe und erster antirassistischer Fangruppen Fahrt aufgenommen, doch Spiele des Nationalteams waren äußerst attraktive Anlaufpunkte für rechte Hooligans.
Die St.-Pauli-Fans sammelten Unterschriften gegen die Spiele, verteilten Flugblätter und veranstalteten Anfang Dezember einen Aktionstag. DFB-Vertreter reisten zu einem Krisentreffen nach Hamburg. „Der damalige Sicherheitsbeauftragte Wilfried Hennes hat nicht verstanden, worum es uns gegangen ist. Er war erbost, dass sich Fans erdreisten, DFB-Termine infrage zu stellen“, sagt Brux. „Mit hochrotem Kopf hat er gerufen: ‚Sie werden es nicht schaffen, ein Länderspiel zu verhindern.‘“ Eine Fehleinschätzung.
Verschwörungstheoretiker Niersbach
Noch im Dezember sagten die Hamburger Behörden das Spiel am Millerntor aus Sicherheitsgründen ab, Ende Jänner 1994 auch das Match im Volksparkstadion. Der DFB hielt jedoch an seinem Termin fest. „Der 20. April steht bei uns nicht auf dem Index“, sagte Wolfgang Niersbach, damals Pressechef des Verbands. Er hatte seine eigene Erklärung, warum der Länderspieltermin mittlerweile auch international Aufmerksamkeit erregte: „80 Prozent der amerikanischen Presse sind in jüdischer Hand. Da werden die Ereignisse in Deutschland seismographisch genau notiert.“
Nach dem Absprung der Hamburger Politik fand der DFB andere Verbündete. Der Ersatzspielort demonstriert das Ausmaß der mangelnden historischen Sensibilität: das Berliner Olympiastadion. Eberhard Diepgen, CDU-Bürgermeister der neuen und alten deutschen Hauptstadt, sah die Gelegenheit zur Profilierung von Berlin als Sportstadt. Der 20. April sei kein besonderer Tag, sagte auch er und kündigte ein massives Sicherheitsaufgebot rund um das Spiel an.
Das Stadion in Berlin war nicht nur wegen der Olympischen Spiele 1936 symbolisch aufgeladen, sondern auch weil dort 1938 ein Länderspiel zwischen Deutschland und England stattgefunden hatte, bei dem die Gäste den Hitler-Gruß gezeigt hatten. Bilder davon sollten fortan die Berichterstattung in England rund um das Länderspiel begleiten. Die nationalsozialistische Vergangenheit konnte der DFB in Berlin genauso wenig hinter sich lassen wie die Kritik aus der Fanszene. Das 1993 gegründete „Bündnis antifaschistischer Fußballfans“, kurz: BAFF, trieb die Proteste mit Pressearbeit, Plakaten und Demoaufrufen weiter. Das Motto lautete jetzt: „Falscher Ort, falsche Zeit“.
Ein großer Sieg
Deutsche und englische Sicherheitsbehörden warnten inzwischen vor den Plänen rechter Gruppen aus beiden Ländern. Auch über den Fußball hinaus hatten rechtsradikale Organisationen ihr Erscheinen angekündigt, und die antifaschistische Szene Berlins war bereit zur Gegenwehr. Anfang April kam es zu einem Buttersäureangriff auf die Geschäftsstelle des Berliner Fußball-Verbands, zu dem sich Autonome bekannten. Der englische Verband sagte das Spiel ab. Man habe gehofft, dass die Risiken rund um das Spiel abnehmen würden, aber das sei nicht der Fall, erklärte Verbandspräsident Bill Millichip.
In Deutschland hagelte es Kritik. „Ein Tor für Adolf“ titelte die Berliner Zeitung, Funktionäre des DFB und des Berliner Verbands warfen den Engländern vor, vor Gewaltandrohungen von Randgruppen eingeknickt zu sein. Der Fehler war jedoch vorher geschehen, wie Gordon Taylor, Vorsitzender der englischen Spielergewerkschaft, sagte: „Es ist bedauerlich, dass der Fußball sich diesem Druck beugen muss, aber wenn man ein solches Datum wählt, ist das wohl unvermeidlich.“
Dem in Deutschland noch relativ neuen Fanengagement gaben die Ereignisse Auftrieb, im Sommer veranstaltete BAFF einen großen Fankongress, im Herbst eine Demonstration vor der DFB-Zentrale zum Erhalt der Stehplätze. „Für uns war es ein großer Sieg“, sagt Sven Brux. „Ein paar Leute zwingen zwei Verbände, ein Länderspiel abzusagen, und das an drei verschiedenen Orten.“