Sein Lachen, so hat Osim in seiner Zeit als Sturm-Trainer immer wieder gesagt, habe er wegen des Kriegs in seiner Heimat verloren.
Das Spiel von Katz und Maus
An seinem zweiten Geburtstag ist Ivica Osim 66 Jahre alt. Er befindet sich in Tokio. In der Jutendo-Universitätsklinik wacht er am 26. November 2007 aus dem Koma auf. Ein Schlaganfall hat ihn fast umgebracht. Zehn Tage lang hat seine Frau Asima um sein Leben gebangt. In ihrem Haus im Tokioter Vorort Chiba war Ivica Osim plötzlich leblos neben ihr im Bett gelegen. Sie hatten sich im Fernsehen ein Spiel aus der Premier League angesehen. Als er aus dem Koma aufwacht, merkt er, dass er linksseitig teilweise gelähmt ist. Er schlägt die Augen auf und sieht Asima. Sie beugt sich über ihn, und er flüstert ihr zu: „Wie ist das Spiel ausgegangen?“ Asima lächelt. Freudentränen laufen ihre Wangen hinunter. Ivan, wie sie ihn nennt, geht es wieder besser. Doch sein Leben wird sich ab jetzt völlig ändern. Er spricht nur mit Mühe. Aber das ist jetzt nicht so wichtig, Ivan hat überlebt.
Ungeduldig in die Therapie
Ivica Osim beschreitet den langen Weg zurück. Nach drei Tagen absolviert er erste Gehübungen. Im Februar 2009 treffe ich ihn zum ersten Mal zu einem langen Gespräch. Nach vielen Jahren der stummen Bewunderung als Sturm-Fan begegne ich ihm an einer Wegscheide, fernab von seinen Erfolgen, aber kämpferisch wie zuvor: „Weil ich so ungeduldig bin, habe ich viel mehr Übungen gemacht, als die Ärzte verlangt haben. Aber zu viel ergibt manchmal das Gegenteil“, sagt er. Er stützt sich auf einen Stock und seine Frau Asima. Er muss lernen, mit seinem neuen Körper umzugehen. Als ich an diesem kalten Wintertag in seine blauen Augen schaue, stelle ich mir den gebrechlichen alten Mann als kleinen Buben vor. Wie er in seiner Heimatstadt Sarajevo Fußball spielt, dann für Zeljeznicar stürmt und in Frankreich seine Fußballkarriere ausklingen lässt. Ich verfolge seine Zeit als Trainer von Zeljeznicar und des letzten jugoslawischen Nationalteams. Ich sehe ihn hier in Graz, als er Sturm im Trainingszentrum des Vereins auf Erfolge vorbereitet. Jetzt ist er aus Japan zurück, wohin ich ihn nie hatte fortgehen lassen wollen. Ich habe Angst, ihn mit den Anstrengungen eines Interviews zu überfordern. Er sagt: „Na ja, die Psychologin in der Sigmund-Freud-Klinik in Graz wollte gerade testen, ob mein Kopf noch funktioniert. Da habe ich sie die Abseitsfalle abgeprüft.“
Therapieübungen bestimmen seinen Alltag. Sein zweites Leben wird viel kürzer sein als sein erstes. „Ich fühle mich körperlich wie ein altes Haus, in dem eine Bombe explodiert ist. In mir ist alles zerstört. Der Vorteil ist aber, ich spüre links keine Schmerzen mehr. Ich kann also beruhigt zum Zahnarzt gehen“, sagt er der Kleinen Zeitung im November 2008. Da klingt er wie der Osim aus seinem ersten Leben. Der Osim, der nicht eine, sondern die vielen Seiten des Lebens abwägt, die es zu bieten hat. Der neu geborene Osim lacht mehr als der alte. Sein Lachen, so hat er in seiner Zeit als Sturm-Trainer immer wieder gesagt, habe er wegen des Kriegs in seiner Heimat verloren. Bei einem Bombeneinschlag in seinem Kopf hat er es wiedergefunden.
Nie mehr Trainer
Sein wacher Geist räumt die Bombenschäden schnell weg. Wie zuvor bestimmt die Frage nach dem Resultat des jeweils letzten Spiels seinen Alltag. Sie ist sein Motor. „Wie ist das Spiel ausgegangen?“, „Was lerne ich daraus?“, „Welche Auswirkungen hat es auf die nächste Partie?“ Es ist aber auch die Testfrage, mit der er jedes unserer Gespräche beginnt. Osim kennt das Resultat, nach dem er mich fragt. Es geht ihm darum, mich kennenzu lernen. Diese Frage ist Teil des Pingpongspiels, mit dem er seine Umwelt ständig erforscht. Seinen nächsten Schritt passt er auf die Reaktion an. Lässt sich sein Gesprächspartner herauslocken, geht er verbal in den Konter. Zieht sich sein Gesprächspartner zurück, versucht Osim ihn aus der Reserve zu holen. So wie früher als Spieler und Trainer mit dem Ball. Er nennt diese Taktik „Katz und Maus“. Sie ist die Quintessenz seiner Fußballweisheit – der kontrollierten Offensive.
Bald nach seinem Schlaganfall ist klar, dass der Körper mit der Genesung seines Geists nicht Schritt halten wird. Die Ärzte sprechen von einem Heilungsprozess von sieben Jahren. Heute ist er trotz intensivster Therapie immer noch stark beeinträchtigt. Er probiert verschiedenartige Behandlungen, doch eine Rückkehr auf die Trainerbank ist ausgeschlossen. Zu groß wären die körperlichen Strapazen, zu stark die emotionale Belastung. Wollen würde er schon. Die Karriere eines der größten Trainer des internationalen Fußballs der Jahrtausendwende findet nach 29 Jahren ihr Ende in einer Durchblutungsstörung seines Gehirns.
Der Lehrer
Sein Amt als japanischer Teamchef übernimmt Ende 2007 Takeshi Okada. Vier Jahre lang hatte Osim versucht, den Japanern seine Idee vom Fußball beizubringen. Den mittelständischen Klub JEF United trainierte er ab 2003 und machte ihn zum Titelkandidaten und zweimaligen Ligapokalsieger. Die Anerkennung für Osim im Land ist so groß, dass ihn der Fußballverband 2006 zum Teamchef bestellt. 2005 erscheint ein Buch mit Osims Sprüchen, es verkauft sich 400.000-mal. Der Videospielhersteller Sega bringt 2009 das Spiel „J-League 6“ mit Osim auf dem Cover heraus. Japanische Medien nennen ihn Sensei, den Lehrer.
Allerdings beginnt er vor seinem Schlaganfall zunehmend an seinen Schülern zu verzweifeln. „Die Japaner würden gern die Formel für meine Fußballlehre kopieren und anwenden. Aber die gibt es nicht“, sagt mir Osim einmal. „Es geht um Arbeit, Arbeit, Arbeit und die Freiheit, im richtigen Moment Risiko zu nehmen und eine Entscheidung zu treffen. Sie würden mich aber gerne noch vor dem Tor fragen, was sie jetzt tun sollen.“ Zugleich schätzt er die hohe Disziplin und die enorme Lernbereitschaft der Japaner.
Doch als der zweimalige Asien-Cup-Sieger 2007 beim Versuch, den Cup zum dritten Mal in Folge zu gewinnen, mit einem 1:1 gegen Katar startet, verliert Osim die Nerven. Er nennt seine Spieler Amateure und fährt seinen Übersetzer so laut an, dass dieser zu weinen beginnt. Der Druck auf den Teamchef ist groß und die Vorbereitungszeit auf das Turnier kurz. Als er sich beim Viertelfinale gegen Australien vor dem Elfmeterschießen in die Kabine zurückzieht, wird ihm vorgeworfen, die Mannschaft nicht ausreichend zu unterstützen. Osim sagt nach dem Spiel: „Elfmeterschießen sind schlecht für mein Herz. Ich möchte nicht als Trainer der japanischen Nationalmannschaft, sondern in meiner Heimatstadt Sarajevo sterben.“ Als er sich Ende 2008 aus Japan verabschiedet, ist seine Bilanz als Teamchef trotz aller Schwierigkeiten positiv. Sein Wort hat bis heute Gewicht, seine Meinung zu anstehenden Entscheidungen und Entwicklungen im japanischen Fußball bleibt gefragt.
„Elfmeterschießen sind schlecht für mein Herz. Ich möchte nicht als Trainer der japanischen Nationalmannschaft, sondern in meiner Heimatstadt Sarajevo sterben.“
Ein Schwabe für Zeljeznicar
In Japan schließt sich der Kreis von Osims internationaler Karriere. Begonnen hat sie 1964, als er bei den Olympischen Spielen in Tokio vier Tore für Jugoslawien schießt. Zwei davon beim 6:1-Sieg über die Japaner. In Marko Tomas’ Biografie „Ivica Osim. The Game of His Life“ sagt Osim, dass er diese Episode längst vergessen hatte und die Japaner ihn bei seiner Rückkehr daran erinnert hätten. Es ist oft sinnlos, ihn auf seine Zeit als Spieler anzusprechen. Mit einer kurzen Bewegung der rechten Hand wird er die Frage wegwischen. „Ich bin immer viel zu lange am Ball geblieben“, sagt er dann. „Das zählt im heutigen Fußball nichts mehr.“ Der hoch aufgeschossene blonde Spieler von früher scheint ihn nicht mehr zu interessieren. Doch lässt man ihn einfach reden, kommen wie beiläufig Erinnerungen an eine Zeit, als er in den 1960er Jahren gemeinsam mit seinem Freund Miso Smajlovic ein gefährliches Offensivduo bildete. Ihr Klub, so wird er dann erzählen, heißt Zeljecnicar und trägt blau-weiße Farben. Es ist der Klub der Arbeiter und Zuwanderer in Grbavica, dem Heimatbezirk der beiden im Süden Sarajevos. Den blonden Osim nennen sie seit seiner Kindheit „Svabo“.
Seine Erfolge als Spieler wird Osim nie herausstreichen. Smajlovic und er schießen den Klub 1962 zurück in die erste Liga. Während ihrer gemeinsamen Karriere erhält keiner von ihnen je eine Rote Karte. Als der Klub 1964 die Vormachtstellung der großen Vier – Roter Stern, Partizan, Dinamo Zagreb und Hadjuk Split – bedroht, wird Zeljecnizar laut Osims Biografie aufgetragen, ein Spiel gegen Hadjuk Split zu verlieren. Osim versucht erfolglos dem Spiel fernzubleiben. Smajlovic und er treffen mehrmals die Stange. Die Mannschaft unterliegt 1:4. In Folge werden nur die beiden Angreifer ein Jahr lang gesperrt. Als Sündenböcke werden sie in einem Schauprozess verurteilt. Vor Gericht fragt Osim den Richter: „Wenn wir als abschreckendes Beispiel dienen sollen, warum sperren Sie uns nicht ein Leben lang?“ Kurz darauf erkrankt Osim schwer, seine Profikarriere steht an der Kippe.
Doch er übersteht diese Krise und wird 1967 zum besten Spieler der Liga gewählt. Eine große Anerkennung, die Spielern außerhalb von Belgrad und Zagreb nur selten zuteilwird. Osim steht am Höhepunkt seines Leistungsvermögens. Teamchef Rajko Mitic macht ihn zum Spielmacher für die EM 1968 in Italien. Im Semifinale schlägt Jugoslawien Weltmeister England 1:0, Osim verletzt sich. Da Auswechslungen noch nicht erlaubt sind, muss er durchspielen. Das ist Gift für seine Verletzung. Jugoslawien muss die Finalspiele ohne ihn bestreiten und unterliegt Italien.
Vermittler in Bosnien
Das Jugoslawien, für das er bei der EM 1968 spielte, gibt es heute nicht mehr. Im Nachfolgestaat Bosnien und Herzegowina gerät auch der Fußball Anfang 2011 in die Wirren der Politik. Intransparente Geldflüsse, gegenseitiges Misstrauen der Funktionäre und Günstlingswesen blockieren den Verband. Dessen Statut sieht ein dreiköpfiges Präsidium mit jeweils einem Vertreter der drei großen Bevölkerungsgruppen – Bosniaken, Serben und Kroaten – vor. Als die UEFA diesen Zustand anprangert und mit der Suspendierung droht, steht mit der Nationalmannschaft die letzte gesamtbosnische Identifikationsplattform vor der Auflösung. Das gerade in jenem Moment, in dem ihre sportlichen Leistungen eine Qualifikation für die EM 2012 möglich erscheinen lassen.
Erst als der Verband Osim zum Vorsitzenden eines Normalisierungskomitees bestellt, findet sich eine Lösung für ein neues Statut mit nur einem Präsidenten, die die UEFA zufriedenstellt. Bilder aus dieser Zeit zeigen einen körperlich gebrechlichen Osim, der die Vertreter der Bosniaken, Serben und Kroaten besucht, um sie vom neuen Statut zu überzeugen. Sein Vermittlungserfolg ist die Basis für die erstmalige Qualifikation der Nationalmannschaft für ein großes Turnier – die WM in Brasilien 2014.
Ivica Osim ist eine der wenigen verbliebenen Persönlichkeiten, deren Autorität das Land einen könnte. Gelernt hat er sein Handwerk als Kind in Sarajevo, wo er vor dem Krieg mit Freunden aus allen Bevölkerungsgruppen zusammengelebt hat. In den letzten Jahren leben Asima und er bei ihrer Tochter Irma auf den westlichen Hügeln der Stadt nahe dem Olympiastadion Asim Ferhatovic Hase. Ohne die Nähe zu einem Fußballplatz kann Osim nicht sein. Er schaut sich zumindest zwei Partien pro Tag vor Ort oder im Fernsehen an und spielt mit seinen Enkelkindern.
Neue Zeitrechnung in Graz
20 Jahre zuvor ist die Familie getrennt. Asima und Irma sind in Sarajevo eingesperrt. In der Stadt tobt der Krieg. Auf ihren Hügeln wartet der Tod. Die Belagerung und Bombardierung durch bosnische Serben verhindert von Frühjahr 1992 bis Herbst 1994, dass Osim Frau und Tochter sehen kann. Er lebt zunächst mit seinem Sohn Selimir in Athen, wo er Panathinaikos trainiert. Als er im Sommer 1994 ein Angebot aus der Türkei erhält, setzt er sich ins Flugzeug nach Istanbul. Dort trifft ein türkischer Zollbeamter eine für den österreichischen Fußball folgenschwere Entscheidung. „Ich habe 1994 nur einen jugoslawischen Pass gehabt. Mit dem haben sie mich nicht einreisen lassen“, so erklärte mir Osim einmal seinen Weg in die Bundesliga. In Athen erreicht ihn sein ehemaliger Mannschaftskollege aus Frankreich, Heinz Schilcher, und macht ihm das Angebot, Trainer des SK Sturm zu werden. „Warum nicht?“, denkt sich Osim und nimmt an. Von Graz aus würde es leichter sein, mit Asima in Kontakt zu bleiben. Es liegt näher an Sarajevo, viele Bosnier leben in Österreich und Slowenien. Sie würden ihm helfen.
In den nächsten acht Jahren wird er Sturm helfen, die Tür zu einer neuen Fußballwelt aufzustoßen. Kein anderer Trainer hat bisher in Österreich Vergleichbares geleistet. Seine Strategie hat Osim im Kopf, als er nach Graz kommt. Er möchte der jungen Mannschaft sein Spiel von der Katze und der Maus beibringen. Eine auf den Gegner angepasste Variante des offensiven Kombinationsfußballs. Keine leichte Aufgabe bei einem Klub, dessen Funktionäre und Fans bis dahin zufrieden waren, wenn am Spielfeld möglichst viel gekämpft und gelaufen wurde. Der Verein ist zu diesem Zeitpunkt ohne nationalen Titel im Profifußball. Osim führt ihn zu zwei Meistertiteln und drei Cup- und Supercupsiegen.
Nicht nur für Sturm, auch für Ivica Osim ist das in Titeln gemessen die erfolgreichste Zeit seiner Karriere. Er verbringt sie in der Abgeschiedenheit der Provinzhauptstadt Graz, in der er genug Ruhe hat, um zu arbeiten, und mit Hannes Kartnig einen Präsidenten in der Hochblüte seines Fußballwahnsinns. Der ist erfolgshungrig und stellt das notwendige Geld auf, um die Mannschaft zu verstärken.
Von Null auf Hundert
Schon seine erste Saison als Sturm-Trainer zeigt die neue Dimension, in die Osim den SK Sturm in nur wenigen Monaten führen wird. Der Verein spielt in der Gruabn, dem kleinen Fußballplatz im Stadtzentrum. Dicht gedrängt stehen die Fans nur einen halben Meter vom Spielfeldrand entfernt, wenige Zentimeter neben dem Trainer. Pissoirs sind Mangelware, und Flutlicht gibt es zunächst nicht. Das Licht bringt Ivica Osim. Er steht vor der Trainerbank, eine Hand in einer dort für ihn angebrachten Halteschleife der Grazer Straßenbahnen. Die andere dirigiert die Mannschaft. In seiner ersten Saison 1994/95 führt er die Spieler um Ivica Vastic auf den zweiten Tabellenrang. Den Meistertitel verfehlt er um sieben Tore, die seine Mannschaft weniger als Austria Salzburg geschossen hat. Hätte es die in der nächsten Saison eingeführte Dreipunkteregel schon gegeben, wäre Osim Meister geworden. Die Fans stürmen bei Heimspielen den mit Biegen und Brechen 10.000 Personen fassenden Platz und sehen bisher nicht für möglich Gehaltenes. Osims junge und bis dahin unbekannte Mannschaft spielt Fußball und dominiert früher überlegene Gegner wie Austria und Rapid.
Osim hat die Einstellung der Spieler komplett verändert. Er zeigt ihnen, was sie mit seinem Kombinationsfußball erreichen können. „Er hat unsere Kreativität gefördert, indem wir Fehler machen durften“, sagt Spielmacher Vastic dem ballesterer. „Das Spiel verfolgt keinen Plan, es ist unvorhersehbar, hat er immer gesagt. Er hat uns seine Methode beigebracht, sich auf jede neue Situation schnell einzustellen, zu improvisieren und immer zusammenzuhalten.“ Die jahrelang auf Demut konditionierten Sturm-Anhänger versetzt Osim in einen achtjährigen Rauschzustand. Präsident Kartnig schnappt dabei zunehmend über. Osim selbst relativiert in jedem Interview seine Erfolge. So kühlt er den Übermut der Fans und der Spieler und verschafft sich Anerkennung in ganz Österreich.
Peinliches Ende
Doch auf dem Platz lässt Osim kompromisslos selbstbewusst spielen. Seine Mannschaft erreicht ab 1999 dreimal hintereinander die Gruppenphase der Champions League, einmal als Gruppensieger die folgende Runde. Er selbst bescheinigt ihr größeres Potenzial und erinnert immer wieder an die zwei Niederlagen gegen Real Madrid 1999. Beide Male stürmt seine Mannschaft zu Beginn los und geht 1:0 in Führung, verliert dann aber 1:6 und 1:4. „Dabei stand uns die steirische Mentalität im Weg. Die gibt sich zu rasch mit dem Erreichten zufrieden“, sagte er 2014 in einem Interview mit dem Internetportal sturm12.at. „Nur mutige Mannschaften schreiben Geschichte.“ Bis heute grübelt Osim darüber, warum seine Versuche, den Sturm-Spielern Selbstbewusstsein einzuimpfen, gegen die größten Mannschaften Europas letztlich nicht erfolgreich waren. Egal, wer der Gegner ist, so lautet seine Devise: „Es gibt immer die Möglichkeit, etwas mehr Selbstbewusstsein zu haben als der Gegner und etwas zu probieren.“ Schließlich kann eine selbstbewusste Maus auch die stärkste Katze austricksen.
Das Kapitel Sturm endet für Osim am 14. September 2002 an der Bar in den Katakomben des Liebenauer Stadions in Graz. Die Fernsehaufnahmen dieser Szene vermitteln mir heute noch das Gefühl, die Geschehnisse aufhalten zu müssen. Ivica Osim sitzt mit rotem Kopf an seinem Stammplatz an der Bar. ORF-Reporter Gerald Saubach quält ihn mit Fragen nach den Konsequenzen aus der eben erlittenen 1:3-Niederlage gegen den FC Kärnten. „Warum sind Sie da?“, fragt Osim den Reporter. „Sind Sie zurückgetreten?“, erwidert Saubach. Osim will aufstehen und gehen. Der Reporter hält ihm weiter das Mikrofon unter die Nase, Osim muss sich wieder setzen: „Okay, Sie haben geholfen, baba, ich bin zurückgetreten.“ Jetzt schreckt sich Saubach: „Aber Sie können nichts dafür. Es waren zwei schwere Tormannfehler.“ „Wer hat den Tormann aufgestellt?“, fragt Osim. „Sie haben alles gesagt. Jetzt bin ich niemand, wie Sie. Wir können zusammen ein Bier trinken gehen.“ Er hält Saubach sein Bierglas hin. Osim spricht stockend, zwischen den Sätzen pausiert er, als wollte er dem Reporter die Chance geben, ihn in Ruhe zu lassen. Jetzt ist er die Maus. Doch Saubach kapiert seine Rolle als Katze nicht. Er macht weiter. Osim gestikuliert in seiner Wut und Verzweiflung. Er sagt: „Die Atmosphäre ist nicht gut.“
Am Tag zuvor hat Präsident Kartnig ihn in einem Sportmagazin-Interview feige und manierenlos genannt und ihm vorgeworfen, er wolle nur mit „Cevapcici und Raznjici“ – gemeint sind Spieler vom Balkan – arbeiten. Ganz Graz ist peinlich berührt, Osim tief getroffen. Am nächsten Tag beobachtet er seine Mannschaft. Wie wird sie reagieren? Sie verliert. Einige Tage später sagt er dem Magazin News: „Der Präsident kann mich persönlich beleidigen, aber jetzt hat er eine ganze Nation, mein Volk beleidigt.“ Jahrelang hat Osim ohne schriftlichen Vertrag, nur per Handschlag in Graz gearbeitet. Nach seinem Rücktritt klagt er den Verein wegen des erlittenen Mobbings auf die Zahlung einer Abfertigung und restlicher Gehälter. Osim gewinnt den Prozess und spendet die ihm zugesprochene Summe für wohltätige Zwecke. Osim setzt sich mit Asima zusammen und mischt die Karten neu. Seine Neugier führt den Meister des Pingpongspiels mit 61 Jahren nach Asien. Der Manager von JEF United will ihn unbedingt, er hat die jugoslawische Nationalmannschaft bei Vorbereitungsspielen für die WM 1990 in Rovinj beobachtet und ist seither von Osim begeistert.
Besser als das Land
1986 hat Osim das Amt des jugoslawischen Teamchefs angenommen. Zuvor hatte er Zeljeznicar Sarajevo auf den zweiten Platz der Meisterschaft geführt. Im Sommer 1984 gewinnt das jugoslawische Nationalteam um Dragan Stojkovic und Srecko Katanec bei den Olympischen Spielen in Los Angeles die Bronzemedaille. 1987 wird Jugoslawien U20-Weltmeister, Spieler wie Robert Prosinecki und Dejan Savicevic stoßen zur A-Mannschaft und stürzen Osim in das schönste Dilemma seines Trainerlebens. Er muss eine Mannschaft aus den besten Offensivspielern der Welt formen. Dabei steht er von Anfang an unter Druck, die nationalen Interessen der einzelnen politischen Entscheidungsträger und Medien zu berücksichtigen. Als Jugoslawien die Qualifikation zur EM 1988 verpasst, wird Osim hart kritisiert. Doch Verbandspräsident Miljan Miljanic vertraut weiter auf seinen Trainer. Diese Zeit liefert Osims Skepsis gegenüber Journalisten Nahrung, und er entwickelt seine diplomatischen Fähigkeiten. Von der Zusammenstellung seines Trainerteams bis zum Mannschaftskader, überall wollen sie ihm dreinreden. „Am Ende hat es wie die logische Aufstellung der stärksten Spieler ausgesehen, aber natürlich haben wir alles genau in Betracht gezogen“, sagte Osim seinem Biografen Tomas 2013. In einem zunehmend nervösen politischen Klima muss er das. Noch können die Nationalisten ihm nichts anhaben. Osim hat eine Gruppe aus Freunden geformt, die das Potenzial hat, den Titel zu holen, als sie zur WM 1990 nach Italien reist.
Im Viertelfinale rennen sie zu zehnt gegen Weltmeister Argentinien um Diego Maradona an, spielen Chance um Chance heraus. Die Welt sieht den stärksten Fußball eines untergehenden Landes. Im Elfmeterschießen hält der argentinische Tormann Sergio Goycochea zweimal, er sagt später: „Ich habe die blanke Angst in den Augen der jugoslawischen Spieler gesehen.“ Nach dem Spiel weicht die Angst der Erleichterung, keine Verantwortung mehr zu haben. Die Spieler stehen schon das ganze Jahr über unter Druck nationalistischer Gruppierungen und ihrer Medien. Diese wollen Jugoslawien verlieren sehen. In einem Interview des englischen Fußballmagazins The Blizzard sagte Osim 2012: „Manchmal träume ich davon, was passiert wäre, wenn wir Argentinien geschlagen hätten. Hätten wir mit einem Weltmeistertitel den Krieg verhindern können? Vielleicht.“
Doch Ivica Osim gibt noch nicht auf. Als Slowenien und Kroatien 1991 mit westlicher Unterstützung ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien erklären, hält er mit seinen Mitteln dagegen. Er stellt eine noch bessere Nationalmannschaft zusammen, die sich für die EM 1992 qualifiziert. Jugoslawien ist ein Favorit auf den Titel. Osim sagt mir im März 2013: „Die Spieler waren viel besser als das Land. Wären sie an der Macht gewesen und nicht diese Politiker, wäre nichts Vergleichbares passiert. Sie sind untereinander heute noch Freunde und treffen sich.“ Doch die Politik bestimmt den Fußball. Jugoslawien wird kurz vor Turnierbeginn von der EM-Teilnahme ausgeschlossen. „Ich war davon nicht überrascht“, sagt Osim. „Wir haben uns als Land selbst in diese Position gebracht. Einige Leute konnten es aber gar nicht erwarten, uns loszuwerden. Wir waren so eine starke Mannschaft.“ Zu diesem Zeitpunkt ist er schon nicht mehr Teamchef.
Meine Liebe Sarajevo
Der Bosnier Osim versucht bis zuletzt die jugoslawische Mannschaft zusammenzuhalten. Als die bosnischen Serben Sarajevo im April 1992 einkesseln und bombardieren, ist er mit seinem Sohn Selimir in Belgrad und kann nicht in seine Heimatstadt zurück. Am 23. Mai 1992 beruft er eine Pressekonferenz in der Zentrale des jugoslawischen Fußballverbands ein. Osim sitzt zwischen Verbandspräsident Miljan Miljanic und Generalsekretär Branko Bulatovic. Er schwitzt und kann seine Tränen nicht zurückhalten. Dort sagt er: „Verstehen Sie das, wie Sie wollen. Das ist meine private Geste und meine persönliche Entscheidung. Mein Rücktritt ist das Einzige, was ich für meine Stadt tun kann. Sie sollen sich erinnern, dass ich aus Sarajevo komme. Sie wissen, was dort passiert.“ An diesem Tag verliert er sein Lächeln. Er wird es erst in Japan wiederfinden.
Seine Heimatstadt wird bald nicht mehr so aussehen, wie er sie verlassen hat. Auf den Hügeln hinter dem Grbavica-Stadion sitzen die Heckenschützen, Granatwerfer zielen von dort auf die Stadt. Auf dem Rasen riskieren die Fußballer, erschossen zu werden. 500 Meter vom Stadion entfernt ist Ivica Osim mit Freunden und Verwandten aus allen Bevölkerungsgruppen aufgewachsen. Als er nach dem Krieg zurückkehrt, ist diese Gemeinschaft verschwunden. In einem Falter-Interview vom November 2015 sagt er: „Wenn du während des Krieges nicht hier warst, bist du hier praktisch ein Feigling. Ich war in Graz, also nicht in Sarajevo.“
Als ich ihn zuletzt in Sarajevo treffe, sitzen wir vor dem Café seines Sohnes Amar. Es ist Sonntag, die Sonne scheint über die östlichen Hügel der Stadt. „Ohne Asima“, sagt er, „hätte ich das alles nicht geschafft. Sie soll Ihnen sagen, wie sie unsere Kinder großgezogen hat und ich nie da war. Wieviel Wäsche sie für uns gewaschen hat. Wie es war, mit mir zu leben auf allen unseren Stationen. Sie hat mir immer vertraut. Das ist mir wichtig.“ So beschließt Ivica, nur Asima das Interview führen zu lassen. Er tut so, als ob ihn das Ganze nichts anginge und achtet auf die Cevapcici auf dem Grill neben unserem Tisch. Immer wieder dreht er sie, je nachdem wie hoch die Flammen des Grills schlagen. Nach einer Viertelstunde serviert er sie mit den Worten: „Sagen Sie, wie ist das letzte Spiel Sturm gegen Ried ausgegangen?“
Mitarbeit: Stefan Kraft & Yuko Takemoto
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