Das Schweizer Nationalteam erlebt derzeit die erfolgreichste Phase seiner Geschichte. Die Mannschaft konnte sich für sieben der letzten acht Großturniere qualifizieren und überstand dabei dreimal die Gruppenphase. Das Land könnte sich also in einem Zustand permanenter Glückseligkeit befinden. Dem ist nicht so. Müsste man sich anhand von Stammtischgesprächen und Online-Kommentarspalten ein Urteil bilden, käme man zu dem Schluss, das Team stünde vor dem Fall ins totale Chaos. Von der Euphorie zu Beginn des Höhenflugs unter Trainer Köbi Kuhn nach der Jahrtausendwende ist nichts mehr zu spüren. Weder der Auftritt bei der letzten EM, wo nur sichere Elfmeterschützen zum Aufstieg ins Viertelfinale fehlten, noch die WM-Qualifikation mit neun Siegen aus zehn Spielen vermochten sie wieder zu entfachen.
LICHTSTEINERS CODES
Das Testspiel gegen Panama wollten zuletzt nur 8.000 Leute sehen. Vor zehn Jahren sorgten vergleichbare Gegner für volle Stadien. Für den 6:0-Sieg gab es keine Anerkennung, sondern Schelte. Es sei eine Schande, dass man nicht zweistellig gewonnen habe, und eine noch größere, dass die Spieler die Hymne nicht mitgesungen hätten, so die Kommentare. Es ist die Fortsetzung einer lang schwelenden Debatte, die durch die Äußerungen eines Teamspielers salonfähig wurde: Stephan Lichtsteiner.
Der Juventus-Verteidiger gilt nicht gerade als Sympathieträger, er reklamiert ständig am Platz, wirkt überehrgeizig und arrogant. Doch als er vor sechs Jahren ein sensibles Thema ansprach, erntete er landesweit Zustimmung. In mehreren Interviews bemängelte er, dass die „Nati“ kaum noch Identifikationsfiguren habe, und führte aus, dass Spieler mit Migrationshintergrund das nicht sein könnten. Er nahm die Klassifizierung in „richtige“ und „andere“ Schweizer vor und bezeichnete sich selbst als Eidgenossen. Eine Unterscheidung, die der rechten Szene entstammt, um darauf hinzuweisen, dass nicht jeder mit einem roten Pass ein „echter“ Schweizer sein dürfe.
Auch Teamchef Vladimir Petkovic, der 2014 Ottmar Hitzfeld nachfolgte, geriet zwischen die Fronten um den „Balkangraben“ Nicht wegen der Ergebnisse, denn unter ihm spielte die „Nati“ deutlich attraktiver, flexibler und erfolgreicher als unter Hitzfeld. Allein wegen seiner bosnisch-kroatischen Herkunft muss er sich vorwerfen lassen, Spieler mit Wurzeln auf dem Balkan zu bevorzugen.
TRÄGE UND ANTIQUIERT
Mit beachtlichen Resultaten im Köcher ging Petkovic in die Offensive: Als er vor der EM zum Entsetzen der Journalisten aus Zürich, Basel und Bern eine Pressekonferenz auf Italienisch abhielt, durfte dies als kleine Rache für die Berichterstattung der Deutschschweizer Medien verstanden werden. In der Neuen Zürcher Zeitung sagte er: „Sicher stört es den einen oder anderen, wenn einer mit -ic Erfolg hat. Ich verlange nur dies: Man soll mich kennenlernen und sich über mich eine Meinung bilden. Ich will mir nicht mehr alles gefallen lassen.“
Denn jene Teile der Bevölkerung, die über das Team herziehen, tun dies nicht wegen des Charakters des Teamchefs oder seiner Spielweise, sondern weil es ihnen nicht passt, dass die „Nati“ so multikulturell ist. Das Schweizer Fernsehen machte sich die Mühe, mit Archivmaterial zu beweisen, dass auch die Teamspieler in den Zeiten von Kuhn, Marcel Koller und Stephane Chapuisat kaum je die Lippen zur Hymne bewegten – kein Wunder, schließlich ist die Melodie träge und der Text antiquiert. Verbandssekretär Alex Miescher schrieb dazu in einer Kolumne: „Diejenigen, die mit rassistischem Unterton die -ics auffordern, nun sofort wie Gigi Buffon mit geschlossenen Augen den Schweizerpsalm zu brüllen, sind auch diejenigen, die, falls das passieren sollte, dann monieren, nur wegen des Singens sei Herr -ic dann noch lange kein Schweizer.“
UNERFÜLLBARE ERWARTUNGEN
Zwei Drittel der aktuellen Nationalmannschaft sind Secondos, der Debatte um „richtige“ und „andere“ Schweizer müssen sich aber nur jene mit Wurzeln auf dem Balkan stellen. Für Empörung sorgten zudem Granit Xhaka und Pajtim Kasami, als sie Torerfolge bei ihren Klubs mit der Geste des albanischen Doppeladlers feierten. Zahlreiche Kommentarschreiber forderten die beiden dazu auf, bei der FIFA einen Nationenwechsel zu beantragen. Das erinnert an die Fälle von Mladen Petric und Ivan Rakitic, die sich für ihre zweite Heimat Kroatien entschieden hatten. Sie mussten sich als Verräter beschimpfen lassen, Rakitics Familie wurde bedroht und dem Vater die Einbürgerung verweigert. Doppelstaatsbürger stehen also vor der Wahl, sich im Schweizer Trikot dem ständigen Misstrauen auszusetzen oder zu wechseln und so den Zorn auf sich zu ziehen.
Fußballern in der Schweiz ist es kaum möglich, wie die übrigen 40 Prozent der Bevölkerung mit Migrationshintergrund diese Mehrfachzugehörigkeit einfach zu leben. Nur wer wie Xherdan Shaqiri gebetsmühlenartig wiederholt, wie unendlich dankbar er dem Land sei, das ihm als Migrant eine Chance gegeben habe, hat zumindest Aussichten darauf, akzeptiert zu werden – wobei der kleinste Fehltritt alles zunichtemachen kann. „Denn ein Land, das nicht über rassistische Strukturen sprechen und Institutionen verändern will, liebt die Ausländer, die es aus eigener Kraft schaffen – und diszipliniert die, die ‚eigenverantwortlich‘ in den Mühlen des Systems scheitern“, formuliert es der Soziologe Rohit Jain.
Doch einen Vorteil hat die ungerechtfertigte Kritik an der „Nati“. Jahrzehntelang war die Mannschaft von Grabenkämpfen geprägt: früher Welschschweizer gegen Deutschschweizer, später Zwistigkeiten um polarisierende Figuren wie Ciriaco Sforza und Johann Vogel. Unter dem dauernden Beschuss ist sie heute so geeint wie nie – trotz Lichtsteiner. Das kommende Turnier wird ohnehin sein letztes sein, zugunsten der Harmonie verzichteten die „anderen“ Schweizer auf eine Retourkutsche. Die Aussichten, dass breite Teile der Bevölkerung ihre „Nati“ wieder lieben lernen werden, sind dennoch mäßig. Denn damit ihre Vorurteile nicht über den Haufen geworfen werden können, setzt die Nörglerfraktion die Erwartungen vorsorglich illusorisch hoch an. Die 1994er-Mannschaft wird für ihren Achtelfinaleinzug bis heute glorifiziert, doch bei der WM in Russland wird alles unter dem Erreichen des Halbfinales Anlass zu Kritik geben. Am Trainer, an den Secondos und dem Nicht-Singen der Hymne.