Die spanische Nationalmannschaft ist wieder da angekommen, wo sie schon oft war: Geheimfavorit. Das heißt: Den Titel traut ihr außerhalb Spaniens kaum jemand zu. Jahrzehntelang scheiterte das Team an internen Streitereien, schlechten Schiedsrichtern und Tormannfehlern. Dann kam 2008 das EM-Finale in Wien, und es begann die Regentschaft des Tiki-Taka im Weltfußball. Mit schnellem Kurzpassspiel und schlafwandlerischer Ballsicherheit räumten die Iberer drei Titel in Folge ab. Bei den letzten zwei Großereignissen jedoch ging das Team mit weitgehender personeller und taktischer Kontinuität stilvoll unter. Die Gegner kannten die Lauf- und Passwege der Spanier, harmlose Ballstafetten fanden keinen Abnehmer statt wie einst einen David Villa in Höchstform. Die Rufe wurden lauter – nach einem Wechsel und vor allem nach einem Plan B.
B WIE …?
Der Wechsel ist geschafft, ältere Spieler sind zurückgetreten, ebenso Teamchef Vicente del Bosque. Betreut wird die Mannschaft nun von Julen Lopetegui, der als Nachwuchsteamchef mit der U19 und der U21 den EM-Titel erringen konnte. Feine Technik und kurze Pässe geben auch heute noch den Ton an, jedoch versucht das Team, schneller zu Torabschlüssen zu kommen. Das ist zwar noch kein Plan B, hat aber in der Qualifikation hervorragend funktioniert. Neun Siege und ein Unentschieden standen am Ende zu Buche, dazu eine Menge Experimente im Angriff. Manchmal ohne klassischen Stürmer, oft mit Alvaro Morata oder Diego Costa. Mit dem Wiedererstarken von Valencia kam Rodrigo Moreno ins Team, und selbst alte Haudegen wie der 37-jährige Aritz Aduriz wurden getestet. Ein Fixstarter kristallisierte sich jedoch nicht heraus, und so kam Iago Aspas von Celta Vigo zum Zug.
Ausgerechnet er, der schmächtige 30-jährige Newcomer aus Galicien, fügt sich hervorragend ins Team ein. Er ist spielstark und torgefährlich, in acht Spielen seit seinem Debüt im November 2016 traf er viermal. Sein Meisterstück sollte das Freundschaftsspiel gegen Argentinien Ende März werden. In der zweiten Hälfte eingewechselt, konnte er drei Assists und ein Tor für sich verbuchen. Und es war dieses Tor von den sechs erzielten, das der Teamchef nach dem Spiel hervorhob, da es seiner Idee von einem Plan B am ehesten entsprach. Zwei Berührungen, ein Abstoß von De Gea und ein Solo von Iago Aspas reichten zum Torerfolg. „Wir streben danach, dass die Mannschaft so komplett wie möglich ist und alle Register beherrscht. Wenn du den Ball von hinten rausdrischst, musst du nach Lösungen suchen, und eine der Lösungen war diese“, sagte Lopetegui bei der Pressekonferenz. „Es ist ihm fantastisch gelungen.“ Dieses Lob ist zwar noch kein Fixplatz für Russland, aber die Chancen von Aspas standen nie besser.
DER JOKER
Bis zu seinem 25. Geburtstag hat Aspas kein Spiel in der Primera Division gemacht, Engagements bei Liverpool und Sevilla scheitern an mangelnder Reife und übermächtiger Konkurrenz wie Luis Suarez und Carlos Bacca. 2015 kehrt er zu Celta Vigo zurück, gereift und gleichzeitig froh, wieder daheim zu sein. Seine Leistungen verbessern sich von Jahr zu Jahr, bis ihn auch der Teamchef nicht mehr übersehen kann. Aspas ist außerdem im Vergleich zu Diego Costa und Alvaro Morata äußerst beliebt beim Publikum, da er stets vollen Einsatz zeigt. In El Pais huldigt Rafa Cabeleira Aspas als einem Typen, „der egal, was kommt, in seiner Stammbar auftaucht, mit Freunden Karten spielt oder am Ende der Theke neben dem Pistazienautomaten die Zeitung liest. ‚Ich weiß nicht, ich bin hier glücklich, ich brauche nicht mehr‘, hat er vor Kurzem in einem Interview gesagt.“ Aspas hat das Flair des Straßenkickers, das viele Fans in Zeiten glatter Akademiezöglinge vermissen. Vielleicht ist es die unspektakuläre Frisur, vielleicht die schmale Statur. „Er wirkt langsam, er wirkt schwächlich“, hat El Pais eine Lobeshymne auf den Galicier eingeleitet.
Armando Alvarez von der Lokalzeitung Faro de Vigo bestätigt dem ballesterer, dass Aspas am Boden geblieben ist: „Er lebt noch immer in seinem Geburtsort, einem Vorort von Vigo. Er isst regelmäßig bei seiner Mutter und hat seine Gruppe von Freunden seit Kindheitstagen, mit denen er Karten spielt und fast täglich abhängt.“ Während in Liverpool die Sprachbarriere und die Einsamkeit an Aspas genagt haben, sei es in Sevilla schon besser gegangen, „obwohl Andalusien nicht viel mit Galicien zu tun hat“. Auf Galicisch sagt man dazu morrina, Heimweh. Vor allem nach dem Meer. Die Mutter von Aspas sammelt seit jeher Muscheln und Meeresfrüchte ein, die von der Strömung an den Strand gespült werden, um sie dann zu verkaufen. „Und sie hat damit auch nicht aufhören wollen, als ihr Sohn plötzlich mehr Geld hatte“, sagt Alvarez. Geld ist natürlich immer ein Thema, aber „obwohl ihm teure Autos gefallen – das einzige sichtbare Zeichen seiner Kaufkraft – behält Aspas seine Routinen und die Bescheidenheit im Umgang mit den Leuten bei“.
Trotz der zuletzt regelmäßigen Einberufungen ist sich Armando Alvarez nicht sicher, welche Rolle der Celta-Kicker letztlich im Team spielen wird. Lopetegui werde vermutlich mit einem bulligen Stürmer wie Costa und Morata beginnen und Aspas als Joker bringen. „Ich glaube, er fährt als Ersatzspieler zur WM. Wenn er Glück hat, kann er im Lauf der Gruppenphase einen Platz im Team ergattern.“ Derzeit ist Aspas leicht verletzt, einer Einberufung stünde jedoch nichts im Wege. Die Konkurrenz im Sturm ist hart, doch er nimmt es, wie es kommt. El Pais sagte er: „Ich komme zum Team als Stürmer, als Verteidiger oder als Mittelfeldspieler. Ich komme sogar nur, um die anderen anzufeuern.“ Ob es ihm gelingt, als Joker entscheidend zu helfen und die Hände an den Pokal zu legen? Dafür ließe sich in Russland schon etwas morrina aushalten und ein paar Wochen auf die Kartenrunde und die Pistazien verzichten.