Elf Städte bereiten sich in Russland auf die WM 2018 vor. Das Großevent hat seit der Vergabe immer wieder hitzige Debatten provoziert, doch es wirft auch ein Schlaglicht auf die Vielfalt des Landes. Auf Orte, die sonst oft unbeachtet bleiben. Wie zum Beispiel Kasan, die Hauptstadt Tatarstans.
Sie wirkt einsam. Die hüftlange, grüne Jacke ist fest geschlossen, um den Kopf trägt die junge Frau ein Tuch, wie es an Gäste und Touristen ausgegeben wird, wenn sie das Gotteshaus betreten. Sie steht mit ihren grauen Jogginghosen und den ebenso grauen Turnschuhen vor dem Koranleser, der in der Eingangshalle hinter einer Glaswand sitzt. Sie spricht seine Worte mit, presst die Hände zusammen und schaut in sich gekehrt nach oben – während die Leute um sie herum mit ihren Handys Fotos von der Pracht der Moschee knipsen. Die Kul-Scharif-Moschee in Kasan ist die zweitgrößte in Russland, sie wurde auf einer Anhöhe im Zentrum der Stadt errichtet. Mitten im Kreml, den Kasan auch hat und der von den Vorfahren der Tataren angelegt und schließlich von Iwan dem Schrecklichen zur steinernen russischen Festung ausgebaut wurde. Islam und orthodoxes Christentum, tatarisches und russisches Leben sind die zwei Seiten von Kasan. Die Hauptstadt Tatarstans liegt 800 Kilometer östlich von Moskau, die marmorverkleidete Moschee mit ihren türkisen Kuppeln und den vier 57 Meter hohen Minaretten ist ihr Wahrzeichen. Im Sommer 2018 wird Kasan im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen, wenn hier vier Vorrundenspiele sowie eine Achtel- und eine Viertelfinalbegegnung der WM ausgetragen werden.
VON DSCHINGIS KHAN BIS RONALDINHO
Die Generalprobe hat die Stadt schon beim Confed-Cup im Juni 2017 erlebt. Neben Moskau, Sankt Petersburg und der Olympiastadt Sotschi gehörte Kasan zu den Ausrichterstädten des Turniers. Dabei habe sich gezeigt, wie fußballbegeistert die Menschen in der Stadt sein können, sagen hier nicht nur die Fans. Tatsächlich strömten im Schnitt knapp 39.000 Zuschauer bei den vier Spielen ins Stadion, die 1:2-Niederlage der Gastgeber gegen Mexiko sahen fast 42.000.
Doch schon vor dem ersten Anpfiff rückte der Fußball ins Zentrum des Interesses. Im Mai drängelten sich die Kasaner um die Ex-Kicker Ronaldinho und Jay Jay Okocha, die extra eingeflogen worden waren. Unterhalb des Kremls, die Kul-Scharif-Moschee im Rücken, eröffneten sie einen Fan-Park für den Confed-Cup. Es war ein frischer Tag, Ronaldinho zog sich die Kapuze über den Kopf, während er sich durch die Altstadt führen ließ – vom Bürgermeister persönlich. Der schwärmte dem Brasilianer von der Gastfreundlichkeit seiner Stadt vor und berichtete, dass man für die Fußballtouristen Spazierrouten anbieten werde, „um durch unsere Architektur etwas über die Vielfalt Russlands zu erzählen“. Tatsächlich nimmt Kasan unter den russischen Großstädten eine besondere Stellung ein. Wie ein Konzentrat zeigt sich hier auf engem Raum, was Russland auch im großen Maßstab ist: ein multikultureller, multikonfessioneller Staat.
Wie ein Konzentrat zeigt sich in Kasan auf engem Raum, was Russland auch im großen Maßstab ist: ein multikultureller, multikonfessioneller Staat.
In Kasan leben mehrheitlich Russen und Tataren zu gleichen Anteilen. So halten sich Orthodoxie und Islam die Waage. Aber auch Tschuwaschen, Baschkiren, Mordwinen und Ukrainer sind hier zu Hause. Die Stadt zählt etliche ethnische Gruppen unter ihren rund 1,2 Millionen Einwohnern. Sie alle verbindet eine Geschichte, die mehr als 1.000 Jahre zurückreicht. Sie erzählt von Wirren, Schlachten und Kriegen, von Dschingis Khan, der Vorherrschaft der mongolischen „Goldenen Horde“ und einer Region, in der sich die Tataren an der Wolga einen eigenen Staat schufen: das Khanat Kasan. Erst mit dem Feldzug Iwans des Schrecklichen im Jahr 1552 wurde der Landstrich zu einem Teil Russlands. Heute ist Kasan ein Ort, in dem die Menschen die Vielfalt als bereichernd erleben. „Wir sind hier stolz auf unser friedliches, tolerantes Zusammenleben“, sagt Marat Gibatdinow. Diese Balance zwischen den Ethnien und Religionen müsse jedoch gefördert werden, sonst könne sie auch verloren gehen. Gibatdinow ist selbst Tatare, in Kasan geboren, Historiker von Beruf – und fußballinteressiert. Deshalb weiß er auch, dass Kasan in Europa vor allem fußballerisch ein gewisser Ruf vorauseilt, hat doch der lokale Erstligist Rubin einmal den FC Barcelona bezwungen. Praktisch jeder Zweite könne daher etwas mit Kasan anfangen, wenn auch nicht unbedingt mit Tatarstan, sagt Gibatdinow. „Ein einziges Spiel hat mehr gebracht als jede PR-Kampagne.“
DIE DRITTE HAUPTSTADT
Gibatdinow sitzt hinter einem kastanienbraunen Schreibtisch in seinem Büro am Marschani-Institut für Geschichte. Hier gedeiht die tatarische Geschichtsschreibung, die in den Zeiten der Sowjetunion wenig Platz in der offiziellen Erinnerungspolitik hatte. Während russische Historiker die Niederwerfung Kasans 1552 als Geburtsstunde des Imperiums sehen, bleibt dies aus tatarischer Perspektive ein Verlust der eigenen Staatlichkeit. Gibatdinow sagt: „Für die Tataren war und wird die Eroberung immer ein tragisches Kapitel sein.“ Heutzutage jedoch zeigt allein schon die Kul-Scharif-Moschee, die 2005 zum tausendsten Jahrestag der Stadtgründung fertiggestellt wurde, dass die russische und die tatarische Perspektive nebeneinander existieren können. Schließlich steht die Moschee ebenbürtig unweit der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, dem bedeutendsten orthodoxen Gotteshaus der Stadt.
Kasan, das sich schon 2009 die Bezeichnung als dritte Hauptstadt Russlands markenrechtlich sicherte, hat sich für die WM herausgeputzt, groß in touristische und sportliche Infrastruktur investiert und an den Sportevents der letzten Jahre peu à peu geschult: von der Universiade im Jahr 2013 – den Weltsportspielen der Studenten – über die Schwimm-WM 2015 bis zum Confed-Cup 2017. Auch Gewichtheber, Fechter, Badminton- und Wasserballspieler sowie Judoka und die rhythmischen Sportturnerinnen trugen hier Europa- und Weltmeisterschaften aus.
SEI IM MITTELPUNKT
Polina Fomenko ist mit dieser Entwicklung aufgewachsen. Als Volunteer hat die 22-Jährige einen Großteil dieser Veranstaltungen mitgemacht und als Ansprechpartnerin für Fußballteams, Schachspielerinnen und Zuschauer, als Übersetzerin und Ballmädchen gearbeitet. „Sobald du die Akkreditierung der neuen Veranstaltung in der Hand hältst, bist du einfach aufgeregt“, sagt sie. In Kasan hat sich inzwischen ein umfassender Sektor entwickelt, der auf Freiwillige wie Polina setzt. Das Sportministerium und die Stadt unterhalten gemeinsam eine Organisation, die alles vor Ort koordiniert. Mit dem Slogan „Sei im Mittelpunkt des Weltgeschehens“ wirbt sie um ihre Freiwilligen. Zur WM werden in der Stadt rund 2.500 Volunteers aushelfen.
Auch abseits von großen Turnieren hat der Sport einen hohen Stellenwert in der Stadt. Neben Rubin im Fußball spielen Kasaner Klubs im Frauen- und Männervolleyball, im Basketball sowie im Feldhockey national und teilweise international in der Spitze mit. Der Sport Nummer eins in Russland ist jedoch ein anderer: Eishockey. In der KHL, der Kontinentalen Hockey-Liga, spielen neben russischen Klubs auch je ein Verein aus Kasachstan, der Slowakei, Finnland, Weißrussland, Lettland und China. Mit Ak Bars, dem Meister der Jahre 2009 und 2010, ist in Kasan ein Gründungsmitglied der KHL beheimatet. In dessen 10.000 Zuschauer fassende Arena kommen durchschnittlich rund 6.400 Fans zu den Spielen. Name und Wappen des Klubs beziehen sich auf das tatarische Nationalsymbol, den Schneeleoparden. Die Auswahl für Sportfans ist also groß. Die Begeisterung beschränkt sich in Kasan jedoch nicht aufs Zuschauen und die Profis. Sport sei ein gesamtgesellschaftlicher Trend, sagt Historiker Gibatdinow. „Als in den 1990er Jahren in vielen Landesteilen Sportzentren geschlossen wurden, war das in Tatarstan genau umgekehrt.“
STATUSSYMBOL STADION
Dass Kasan nun regelmäßig internationale Großereignisse ausrichten kann, ist von der politischen Führung Tatarstans forciert worden. Die Teilrepublik besaß in der Russischen Föderation gut zwei Jahrzehnte gesonderte Rechte. Sie weiß ihren Einfluss in Moskau geltend zu machen und steht dank reicher Öl- und Gasvorkommen finanziell gut da. Ihre Hauptstadt hat sich nach dem Zerfall der Sowjetunion sukzessive neu erfunden. „Kasan wurde von einem Ort in der tiefen Provinz zu einer modernen, dynamischen Stadt“, sagt Historiker Gibatdinow.
Mit dem Bau der ersten U-Bahn-Linie 2005 sowie mit der Gestaltung einer weitläufigen Promenade am Flussufer wurde die Stadt in den vergangenen Jahren umgekrempelt. Zu den neuen Statussymbolen gehören auch die Sportpaläste der Stadt, deren Prunkstück die 2013 fertiggestellte Kasan-Arena ist. Das WM-Stadion und die daran angeschlossene Infrastruktur beeindrucken auch Moritz Bauer. „Von der Stadt, vom Stadion her müssen wir international spielen“, sagt er. Der 25-jährige Außenverteidiger wechselte vor gut einem Jahr von den Grasshoppers Zürich zu Rubin Kasan und spielte sich dort ins Blickfeld des österreichischen Nationalteams.
Ursprünglich war das Kasaner Stadion Aushängeschild für die Universiade 2013. Es war für 14 Milliarden Rubel, umgerechnet damals mehr als 300 Millionen Euro, innerhalb von drei Jahren nördlich des Stadtzentrums hochgezogen worden. Als Ronaldinho zum Confed-Cup hier ein paar Bälle für die Presse jonglierte, hatte er lobende Worte für den Rasen übrig. In anderen WM-Städten werden derzeit noch Verkehrsanbindungen aus dem Boden gestampft, einige Stadien müssen überhaupt erst fertiggestellt werden – auch unter Korruptionsvorwürfen, wie sie etwa in Samara laut wurden, und mit öffentlichkeitswirksamen Skandalen wie in Sankt Petersburg, wo die Baukosten explodierten und die Arbeiter auf ihren Lohn warten mussten. Im Gegensatz dazu scheint in Kasan eitel Sonnenschein zu herrschen. Dieser Eindruck täuscht: Der Aufstieg zur Sportmetropole wurde zwar über Jahre, aber unter Hochdruck vorangetrieben. Bauprojekte waren auch in Kasan nicht unumstritten. Vor allem im Vorfeld der Tausendjahrfeier wurden im Stadtzentrum ganze Straßenzüge wegen Baufälligkeit abgerissen. Zehntausende Kasaner wurden umgesiedelt. Historiker Gibatdinow schmerzt es zudem, dass Häuser traditioneller Holzbauweise aus dem 19. Jahrhundert einfach verschwunden sind, anstatt restauriert zu werden. „Wir haben einen großen Teil des historischen Stadtbildes verloren“, sagt er. Viele dieser Plätze lägen noch immer brach.
„Die WM ist wie ein nahender Feiertag.“
Abdullin, „Rubin Ultras“
RUBINS RUHM
Die neue Kasan-Arena musste seinerzeit nicht lange auf eine Bestimmung abseits der Großturniere warten. Sie wurde zur Heimat für die Fußballer von Rubin, jenem Klub, der außerhalb Tatarstans am ehesten mit einem Spiel verbunden wird: Am 20. Oktober 2009, am dritten Spieltag der Champions-League-Gruppenphase, schlugen die Kicker aus dem fernen Osten Europas den großen FC Barcelona – und das im Camp Nou. Spätestens seit diesem 2:1-Sieg weiß die Fußballwelt, dass es Kasan gibt. Auch der SK Sturm hat mit Rubin schon seine Erfahrungen gemacht, vor zwei Jahren scheiterten die Grazer in der Europa-League-Qualifikation an den Russen.
Doch die ganz großen Zeiten, 2008 und 2009 mit zwei Meistertiteln in Folge und regelmäßigen Auftritten in europäischen Bewerben, liegen ein paar Jahre zurück. In der Saison 2012/13 erreichte Rubin das Viertelfinale der Europa League und schied dort gegen Chelsea aus. Aktuell liegt der Klub in der Premjer-Liga auf Rang zehn, sechs Punkte von einem Europacupplatz entfernt. Michail Stepanow hat einst Spiele fürs Fernsehen kommentiert, heute ist er Pressesprecher von Rubin. Er sagt: „Ich denke, dass wir uns diese Saison noch für den Europacup qualifizieren können.“ Das Selbstbewusstsein beim Klub ist ungebrochen. Das Stadion, das mit einer weithin sichtbaren LED-Fassade beeindruckt, tut sein Übriges. Mit Wladimir Granat, Ruslan Kambolow, Magomed Ozdoew und Maxim Kanunnikow standen zuletzt auch vier Rubiner im Kader von Teamchef Stanislaw Tschertschessow.
ULTRA-VERMITTLER
Große Hoffnung hegen auch die Fans. Ruslan Abdullin und Denis Denissow sprechen für die „Rubin Ultras“. Wer sich mit den beiden jungen Männern unterhält, begreift, dass es Fußball in Kasan mit Eishockey durchaus aufnehmen kann. Klar, die 45.000 Plätze im Stadion werden nicht voll, zumal die Mannschaft im Moment nicht an frühere Erfolge anknüpfen kann. Der Verein habe zuletzt einer heißen Kartoffel geglichen, die von einer Hand zur nächsten geworfen wurde, sagen die beiden. Jetzt soll es Gurban Berdiyew erneut richten, der turkmenische Trainer, der den Klub in seiner ersten Amtszeit zwischen 2001 und 2013 zu den zwei Meistertiteln geführt hatte. Die Ultras sehen in der Stadt das Potenzial, zehntausende ins Stadion zu ziehen. Das habe der Confed-Cup gezeigt. Abdullin sagt: „Deutschland ist mit der B-Mannschaft gekommen, und selbst die wollten 40.000 Leute sehen.“ Rubin hingegen muss sich derzeit mit im Schnitt rund 9.000 Zuschauern begnügen.
Im Fansektor aber gibt es einen treuen Kern. Ein paar hundert, vor allem Schüler und Studenten, bevölkern bei den Heimspielen die Südtribüne, rollen Transparente aus, feuern an. Abdullin und Denissow sind seit mehr als zehn Jahren dabei. Dass sie jetzt die Gruppe leiten, hat mit einem Vorfall zu tun, über den sie nicht so gern sprechen. Zu oft sind die Bilder in Fernsehen, Zeitung und Internet gezeigt worden. Bilder, die ihrer Ansicht nach nicht die Fankultur von Kasan repräsentieren: 2014 waren bei einem Spiel gegen Torpedo Moskau einige Sitzplätze in Flammen aufgegangen. Bengalen hatten das Feuer ausgelöst. „Das war ein unglücklicher Zwischenfall, bei dem niemand verletzt worden ist“, sagt Denissow. Das sei der Anlass für sie gewesen, die Leitung der „Rubin Ultras“ zu übernehmen. Sie setzten auf einen Dialog mit Verein und Stadionbetreiber und konnten bald erste Erfolge erzielen. Vor anderthalb Jahren haben sie beispielsweise erreicht, dass heute weder Netz noch Zaun zwischen ihnen und dem Spielfeld stehen.
RUSSISCHE RABATTE
Die „Rubin Ultras“ können den Beginn der WM kaum erwarten. „Das ist wie ein nahender Feiertag“, sagt Abdullin. Während der Endrunde wollen sie ein Fußballturnier für angereiste Fans anderer Vereine organisieren. Zehntausende WM-Touristen werden schließlich bei der Endrunde in Kasan erwartet. Überhaupt ist die Vorfreude auf die WM in der Stadt spürbar. Für russische Zuschauer wird es eine spezielle Kategorie mit etwa 350.000 Karten geben, deren Preise an das lokale Lohnniveau angepasst sind. Dennoch zögern einige mit dem Ticketkauf. Noch ist nämlich offen, welche Partien überhaupt in Kasan ausgetragen werden. Die bereits in Gruppe A gesetzten Gastgeber werden hier jedenfalls nicht antreten, alles Weitere ergibt die Auslosung am 1. Dezember. Unabhängig von Spielpaarung und Kartenpreis dabei sein will Polina Fomenko, sie wartet schon ungeduldig auf den Start der Schulungen für die Freiwilligen des nächsten Kasaner Großevents.
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