„Der Club ist ein Depp“, sagt der Volksmund und weil es der fränkische ist, hört es sich eher an wie: „Der Glubb is a Depp.“ Wie er auch ausgesprochen wird, seine historische Berechtigung hat der Spitzname allemal. 1968 wurde der 1. FC Nürnberg Meister – und stieg in der folgenden Saison ab. 1999 ging er als Zwölfter in den letzten Spieltag – und stieg ab. 2007 wurde er Pokalsieger – und stieg natürlich ab. Alles einmalige Leistungen im deutschen Profifußball. Fünf weitere Abstiege kamen im Laufe der Jahre dazu, der bis dato letzte 2014. Nürnberg ist deutscher Rekordabsteiger. Ein Depp eben.
„Jeder Verein vergeigt einmal eine 2:0-Führung, aber beim Club gibt es in der Vereinsgeschichte einige solche Ereignisse“, sagt Manager Andreas Bornemann dem ballesterer. „Die Nürnberger Seele ist in dieser Hinsicht etwas angekratzt.“ Bornemann sagt das aber gar nicht angekratzt, ja fast schon heiter. Schließlich hat er mit all dem nichts zu tun. 2015 trat er sein Amt in Nürnberg an, zwei Jahre später beförderte er den bisherigen Leiter des Nachwuchsleistungszentrums, Michael Köllner, zum Trainer der Profimannschaft. Zunächst interimistisch, dann fix. In seiner ersten kompletten Saison führte Köllner Nürnberg zurück in die Bundesliga. „Von der ersten Minute an haben sich die Spieler auf seine Ideen eingelassen“, sagt Bornemann.
Zahnarzthelfer, Ratgeber, Trainer
Und Ideen hat der 48-jährige Köllner einige. Vor seiner Tätigkeit als Nürnberger Profitrainer fasste er sie sogar in Ratgebern zusammen. Einer davon heißt: „Dein Weg zum Fußballprofi“. Lesen, findet Köllner, sollten seine Spieler überhaupt viel mehr. Zu Weihnachten schenkt er ihnen deshalb Bücher, das Spiegel-Interview mit dem ehemaligen deutschen Teamspieler Per Mertesacker über Druck im Profifußball verteilte er im Kreis der Mannschaft. Köllner sucht den Austausch mit seinen Spielern, auch bei Themen abseits des Fußballs. Zu erzählen hat er viel: Mit zehn ging Köllner in ein Klosterinternat und wuchs dort mit 400 Burschen auf. Später machte er eine Ausbildung zum Zahnarzthelfer – mit 300 jungen Frauen. Angeblich war er der erste männliche Absolvent in der Geschichte Bayerns, das „-in“ auf der Urkunde wurde einfach mit einem Filzstift durchgestrichen. Bald kümmerte sich Köllner aber nicht mehr um Zahnpatienten, sondern um Fußballtalente. Jahrelang arbeitete er im Nachwuchsbereich des deutschen und bayerischen Fußballverbands.
Als Köllner 2016 schließlich nach Nürnberg kam, befasste er sich zunächst mit der Vereinsgeschichte. Er las Bücher darüber und ging zu Legendenstammtischen. „Ich brauche das Gefühl, was einen Verein ausmacht – dazu gehört das Verständnis für seine Historie“, sagte er der Süddeutschen Zeitung. Von seinen Spielern erwartet er dasselbe. „Die Legende lebt“, heißt es in der Vereinshymne, und allen im Klub soll das bewusst sein. Jeder soll sie kennen, die Geschichten von den Helden und den Deppen.
Die aktuelle Mannschaft hat sich mit dem Aufstieg bereits ins Kapitel der Helden eingetragen. Helden, die die Gunst der Stunde nutzten. Anders als in den Jahren zuvor traten in der zurückliegenden Saison nämlich keine finanziell überlegenen Klubs wie Hertha BSC, der VfB Stuttgart, Eintracht Frankfurt und der 1. FC Köln an. Das Teilnehmerfeld war ausgeglichen wie selten zuvor. Und wozu Nürnberg in der Lage ist, zeigte die Mannschaft schon in der Vorbereitung, als sie Inter Mailand 2:1 schlug.
Dauergrinsende Motzer
„Die Mannschaft besitzt Teamgeist“, sagt Bornemann, „und die richtige Mischung aus Mentalität und Qualität.“ Da wäre Kapitän Hanno Behrens, der als defensiver Mittelfeldspieler keine Minute verpasste und 14 Tore erzielte. Der gebürtige Nürnberger Enrico Valentini, der elf Vorlagen lieferte. Der schwedische Stürmer Mikael Ishak, der zwölfmal traf. Und der österreichische Innenverteidiger Georg Margreitter, der nach einigen Jahren in England genau wie Bornemann 2015 nach Nürnberg kam. „Georg überzeugt nicht nur auf dem Platz“, sagt der Manager. „Er ist auch charakterlich eine wichtige Stütze für die Mannschaft.“
Ein Team, das nicht nur Siege feierte, sondern auch Identifikationsgefühle und Begeisterung schürte. „Der Club ist in der Stadt zuletzt wieder viel präsenter geworden“, sagt Birgitt Glöckl von der in Nürnberg ansässigen Akademie für Fußballkultur. „Auf den Trambahnen wehen wieder FCN-Fähnchen, und in Geschäften wird mit FCN-Utensilien dekoriert.“ Die Stimmung bei den letzten beiden Heimspielen der Saison sei überragend wie seit Jahren nicht mehr gewesen, berichtet Glöckl: „Die Franken gelten eigentlich als Über-alles-Motzer, aber im ganzen Mai hat man hier nur Dauergrinser gesehen.“ Bereits am vorletzten Spieltag fixierte Nürnberg mit einem 2:0-Sieg beim SV Sandhausen den Aufstieg.
Für manche Fans war das keine Überraschung, sie ahnten das schon seit Monaten. Unter den 13.000 Zuschauern im Stadion sollen rund 10.000 Nürnberger gewesen sein. Einige, so munkelt man, hätten sich im 220 Kilometer entfernten Sandhausen sicherheitshalber schon in der Winterpause ein Rückrundendabo gekauft, um den Aufstieg ihrer Mannschaft im Fall der Fälle garantiert nicht zu verpassen. „Das sagt viel über die Begeisterungsfähigkeit unserer Fans aus und zeigt, dass sie Vertrauen in die Mannschaft und die Verantwortungsträger hatten“, sagt Bornemann.
Fast alle Aufstiegshelden überzeugte er mittlerweile von einem Verbleib in Nürnberg, kostspielige Verstärkungen wird es jedoch keine geben. Bornemann geht die Mission Klassenerhalt mit dem kleinsten Budget der Liga an. Als Antrieb gilt die bisherige Arbeit: „In den letzten Jahren haben wir viele Dinge geschafft, die ein Depp nicht schaffen würde.“ Zum Beispiel den achten Bundesliga-Aufstieg der Vereinsgeschichte – keinem deutschen Verein gelangen mehr.