Es muss im Sommer 1960 gewesen sein, als die Honoratioren Floridsdorfs in unserem Wohnzimmer ein- und ausgingen. Die meisten dieser Herren ignorierten den dreieinhalbjährigen Gstermel, also mich. In guter Erinnerung blieb mir aber der spätere Direktor des Floridsdorfer Gymnasiums, der mir manchmal eine kleine Tafel Schokolade schenkte. Und ein Rechtsanwalt, der mir stets ein Päckchen Keks – Bahlsen Pangani – mitbrachte, hatte meine besondere Zuneigung gewonnen. Ich wurde bald ins Bett geschickt, die lautstarke, diskutierfreudige, rauchgeschwängerte und wohl auch zunehmend alkoholisierte Atmosphäre bekam ich nur gedämpft mit. Aber ich wusste, dass es um das Wichtigste auf der Welt ging: die Admira.
Auf der Ehrenloge
Und ich wusste auch, was die Admira war: Elf fesche Burschen, die in meist weißen, manchmal auch in schwarz-weiß gestreiften Dressen gegen andere junge Männer – meist in Grün, Violett oder Rot gekleidet – Fußball spielten. Schließlich durfte ich mit meinen Eltern stets den „Platz“, also das Admira-Stadion in der Hopfengasse, besuchen. Dort bekam ich auch mit, welch wichtige Personen meine Eltern waren: Sie brauchten sich nicht bei den Kassen anzustellen, wurden von allen gegrüßt und von immer dem gleichen Platzanweiser zur „Ehrenloge“ gebracht, wo er ihnen mit dem wohl ebenfalls immer gleichen Fetzen zwei Sitze auf den verwitterten Holzbänken abwischte. Oft fiel dort auch der Name meines Großvaters Ernest Judex. Zusammen mit seinem Bruder Johann, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Klassenausschuss der Staatsliga saß, hatte der Büroartikelfabrikant die Admira als Sponsor in den 1930er Jahren „groß gemacht“ und den Platz „gebaut“. Ich dachte damals, dass er das eigenhändig gemacht habe.
Als mein Großvater 1958 starb, gab ihm meine Mutter Friedl am Totenbett das Versprechen, sich Zeit ihres Lebens um das Wohlergehen der Admira zu kümmern. Obwohl sie eine fanatische Anhängerin war, traute sie sich das als Frau in der Männerdomäne Fußball offenbar nicht zu, wie ich heute vermute. Also delegierte sie ihren Mann Otto, der 1952 schon mit der Gründung des – österreichweit ersten – Anhängerklubs beauftragt worden war, in den Vorstand und versuchte so, die Geschicke des Vereins mitzubestimmen. Bei Meinungsverschiedenheiten beschwor sie den Geist ihres Vaters und setzte sich damit fast immer durch.
Management gegen Jedlesee
Zurück ins Wohnzimmer. Meine Mutter erzählte die Geschichte der Treffen im Jahr 1960 immer so: 1951 hatte sich die Admira durch einen Fusionsvertrag mit dem Eisenbahnersportverein eine einigermaßen stabile finanzielle Basis geschaffen, die gemeinsam mit der guten Nachwuchsarbeit zumindest den Klassenerhalt sicherte. Doch 1959 endete die Kooperation wieder, dem Klub drohten der Abstieg und die sportliche Bedeutungslosigkeit. So war es sicher kein Zufall, dass der niederösterreichische Energieversorger NIOGASNEWAG – der Vorläufer der EVN – gerade der Admira ein lukratives Angebot unterbreitete. Das Sponsoringpaket verband die Chance auf Spitzenränge und Auftritte im internationalen Geschehen mit der Verpflichtung für den siebenmaligen Meister, nach Fertigstellung des Südstadt-Stadions nach Maria-Enzersdorf zu übersiedeln.
Das Engagement von Joschi Walter bei der Austria zeigte ab 1959 neue Wege eines professionellen Managements im Fußball vor. Beispiele wie Simmering, WAC und FC Wien verdeutlichten hingegen, wie rasch Traditionsklubs in unteren Ligen verschwanden. So stand bei der Admira eine Grundsatzentscheidung an: Die Vertreter eines modernen Managements sahen sich – meist in unserem Wohnzimmer – den gestandenen Floridsdorfern gegenüber, für die Jedlesee der einzige Ort war, an dem die Admira existieren konnte. Das war der Inhalt der monatelangen Kontroversen, in denen sich beide Gruppen weitgehend unversöhnlich begegneten.
Admira Energie
Im Sommer 1960 war nun nach einigen erfolglosen Vorstandssitzungen beim Gambrinus, dem Vereinslokal der Admira, die ultimative Entscheidung zu fällen: Die NIOGAS-NEWAG drohte, sich einen anderen Partner zu suchen. In der Versammlung ergab sich erneut eine Pattstellung – und hier spitzte sich nun die Schilderung meiner Mutter, die beim Gambrinus die große Abwesende war, dramatisch zu: Mein Vater soll unfähig gewesen sein, der einen oder anderen Variante zuzustimmen. Also habe er sich kurz entschuldigt, sei im Laufschritt die 500 Meter nach Hause geeilt und habe meine Mutter gefragt, was zu tun sei. Sie habe unmissverständlich erklärt, dass die Lösung nur der Profifußball sein könne – selbst um den Preis einer Übersiedlung. Also rannte mein Vater retour, gab sein Votum für den Sponsorvertrag ab und traf damit die Entscheidung über die Zukunft der Admira.
Der Rest ist Geschichte: Der Verein hieß bald darauf ESV Admira-NÖ Energie Wien und war damit europa- oder sogar weltweit der erste Fußballklub, der den Sponsor im Vereinsnamen führte. Die bedeutenden Zuschüsse der NIOGASNEWAG lösten einen sportlichen Aufstieg aus, der sich im Cupsieg von 1964 und im Double des Jahres 1966, aber gleich darauf auch in der Übersiedlung nach Niederösterreich manifestierte. Ab 1967 spielte die Admira im Südstadt-Stadion. Die alten Jedleseer, die anfangs mit Bussen oder der Badner Bahn nach Maria Enzersdorf fuhren, zogen sich rasch zurück. Bald blieb nur noch eine kleine Kerntruppe über, die in wenigen Personenwagen Platz fand.
Unser Wohnzimmer hatte seine Bedeutung als Ort informeller Treffen der Admiraner damit aber keineswegs eingebüßt: Schon 1965 hatte es wieder heftige Debatten gegeben, als sich das Ausmaß des Skandals rund um den Stadionneubau, eng verbunden mit den waghalsigen Finanzkonstruktionen des NIOGAS-Generaldirektors Viktor Müllner, offenbarte und der Verein knapp vor dem Konkurs stand. 1971 galt es, die Frage der Fusion mit der Meidlinger Wacker zu klären. Zwei Jahre später wurde noch weit kontroversieller eine sportliche Verschmelzung mit der Austria diskutiert, die von den Alt-Admiranern scharf abgelehnt wurde. Danach wurde die Runde im Wohnzimmer zunehmend kleiner. Im Gegensatz zum Südstadt-Stadion, wo meine Mutter meist ruhig am Rande der Ehrentribüne Platz nahm, blieb sie im Wohnzimmer die Wortführerin, wenn es galt, im Geist ihres Vaters für die Admira zu kämpfen.