„Ich hab die ganze Welt gesehen“, sagte Walter Probst 2006. Er hatte 1935 sein Profidebüt für Rapid gegeben, spielte später für die Austria und beendete seine Karriere 1952 beim Wiener Sport-Club. Beim Interview mit dem ballesterer vor 17 Jahren war er 87 und einer der wenigen Spieler, die noch von der „Wunderteam“-Ära berichten konnten. Mit seinen Klubs war Probst in Europa gereist, in die USA, nach Haiti, Jamaika und Venezuela. Nach der Spielerkarriere wurde er 1954 Trainer beim IFK Göteborg und dort 1958 Meister. Der Kontakt war auf einer Skandinavien-Tournee entstanden. „Unser Fußball hatte damals einen sehr guten Namen“, sagte er. „Es gab auch andere österreichische Trainer da oben.“ Über einige Jahrzehnte waren die Tourneen für die österreichischen Klubs wichtige Einnahmequelle und Werbemöglichkeit zugleich, für die Spieler waren sie Entdeckungsreisen. Die Geschichten von Touren mit Bus und Bahn, Flugzeug und Dampfer, von Abenteuern im Dschungel und Trainings im New Yorker Central Park erinnern an die großen Zeiten des österreichischen Fußballs. „Mit dem Wiener Schmäh ist man auf der ganzen Welt durchgekommen“, sagte Probst.
Kolonialer Kommerz
Den Anfang machte der Clapton FC. Er unternahm 1890 als erster britischer Fußballverein eine Reise aufs europäische Festland und schlug in Antwerpen eine belgische Auswahl 8:1. Weit über eine kleine Städtetour auf den Kontinent hinaus ging es für den Southampton FC, als die 15-köpfige Delegation am 2. Juni 1904 in See stach. Drei Wochen dauerte die Überfahrt, fast ebenso lang blieb das Team am Rio de La Plata, wo die Mannschaft fünf Spiele in Buenos Aires und eines in Montevideo absolvierte und alle gewann. Organisiert wurde die Tour vom argentinischen Fußballverband und einer Sportvereinigung unter Vorsitz des Schwiegersohns von Staatspräsident Julio Roca. Die Ausgaben für Reise, Unterkunft und Gage der Gäste sowie die Errichtung von Tribünen auf dem Sportplatz wurden durch die hohen Eintrittspreise und den großen Zuschauerzuspruch hereingeholt. Rund 40.000 Menschen sollen die Spiele in Buenos Aires besucht haben, wie der Blog viejosestadios berichtet. Auf den Tribünen – für die es auch ein Aboangebot für alle Matches gab – nahmen die wohlhabenden Kreise der Stadt Platz, die Tournee wurde so zum gesellschaftlichen Event.
„Der Merkantilismus hat im Einklang mit dem aktuellen Fortschritt im Sport ein weites, lukratives Betätigungsfeld gefunden“, kommentierte die Tageszeitung La Argentina die Tour. Die Geschäftemacherei könne den Sport beschädigen, immerhin aber hätten die Organisatoren ein Team aus England geholt, „das für unsere Spieler als Vorbild dient und ihnen erlaubt, im männlichen englischen Sport ein Geschick zu erlangen, das sie sonst nicht erreicht hätten“. Die Reise war der Auftakt für weitere Besuche englischer und schottischer Klubs in Südamerika in den Sommerpausen. Einem anderen Kalender folgte der 1882 in London gegründete Corinthian FC. Er hatte in seinen Statuten verankert, nur Freundschafsspiele zu bestreiten, und begab sich daher frei von Terminverpflichtungen auf ausgedehnte Reisen: 1884 durch Nordengland, 1897 durch Südafrika. 1910 war der Klub in Brasilien zu Gast, gewann dort seine fünf Spiele und inspirierte Fußballinteressierte in Sao Paulo zur Gründung eines Vereins gleichen Namens.
Die elende Heimat
Städtekämpfe von Wiener Teams gab es bereits früher, doch erst 18 Jahre nach dem Clapton FC begab sich der erste österreichische Klub auf eine Tournee. Die Cricketer reisten im Mai 1908 durch Süddeutschland, nach Freiburg, Pforzheim, Karlsruhe und München, und gewannen drei ihrer vier Spiele. Der Erste Weltkrieg unterbrach die beginnenden Reisetätigkeiten, nach 1918 zog es Wiener Mannschaften zunächst in die Nachbarländer, auch Polen entwickelte sich bald zu einem beliebten Reiseziel. 1924 gaben sich die Klubs zwischen Lemberg, Krakau und Kattowitz quasi die Klinke in die Hand. Sieben Wiener Vereine habe man heuer schon beherbergt, berichtete ein polnischer Journalist im Illustrierten Sportblatt im August 1924. „Die meisten Anhänger hat sich Rapid durch sein aufopferndes und beherztes Spiel erobert.“ Die Amateure, Vorgängerklub der Austria, stießen auf weniger Wohlwollen. „Sie sind nämlich ein wenig (oder gar viel?) auf ihre Kunst und ihr Können eingebildet und schätzen in Wort und Tat den hiesigen Fußball gering.“
Im Sommer 1921 begaben sich die Amateure und Rapid gemeinsam auf eine Tournee durch die Niederlande, Schweden und Finnland, die in den Medien als „Nordische Reise“ betitelt wurde. Teils traten sie dabei in gemischten Mannschaften an, nicht immer erfolgreich. Über die 1:3-Niederlage in Amsterdam berichtete das Illustrierte Sportblatt: „Die Österreicher boten durchwegs matte Leistungen.“ Die Begleitmusik der zunehmend ausgedehnten Tourneen der Zwischenkriegszeit war jene, die schon zur Jahrhundertwende in Buenos Aires erklungen war: Geld und Image. Die Reisen brachten Einnahmen, die ab 1924 noch wichtiger wurden. „Als erstes Land auf dem europäischen Kontinent führte Österreich den Profifußball ein, die meisten Klubs waren ständig in Geldnot und suchten dringend zusätzliche Einnahmen“, schreibt Bernhard Hachleitner in der Chronik zum 100-jährigen Bestehen der Wiener Hakoah. „Die Auslandstourneen spielten in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle. Sie brachten Vereinen und Spielern Devisen.“ Das Sport-Tagblatt beklagte im Februar 1922, die Schwäche der österreichischen Währung sei der Grund, dass heimische Vereine „im Ausland in den Ruf von Valutajägern gekommen sind, dass man jeden Versuch eines auf Tournee gegangenen Vereins, in der Fremde sich’s einmal besser gehen zu lassen als in der elenden Heimat, als Bettelfrechheit auffasst.“
Der gute Ruf des Wiener Fußballs machte die Klubs zu beliebten Gästen, doch sie mussten auch liefern. „Bei der Ankunft in Norrköping gab es lebhafte Fragen nach den großen Kanonen, wenigstens einen von diesen Fußballheroen, Kuthan, Uridil oder Konrad, wollte man sehen“, schrieb das Sport-Tagblatt 1921 über eine Station der „Nordischen Reise“.