Matthias Sammer ist sauer. Wie verabredet ist der Teamspieler der DDR vor dem Match gegen Belgien in die Sportschule Kienbaum bei Berlin gekommen. Dort erwarten ihn jedoch nur 13 Kollegen. Der Großteil hat kaum mehr als eine Handvoll Länderspiele vorzuweisen. Manche sind zum ersten Mal dabei, Stammspieler wie Andreas Thom, Ulf Kirsten und Thomas Doll fehlen. 22 Absagen hat Teamchef Eduard Geyer bekommen. „Null Bock aufs Länderspiel“, titelt die Fußballzeitschrift Fuwo und listet die Gründe auf. Neben Verletzungen und Motivationsproblemen sind es teils abstruse Ausreden: Ein Spieler behauptet, keinen Pass zu haben, einer sieht sich bereits als BRD-Bürger und ein anderer gibt an, nicht versichert zu sein.
Der Flugplan spielt Schicksal
Ursprünglich sollte das Spiel am 12. September 1990 das erste Qualifikationsspiel zur Europameisterschaft 1992 sein, doch diese Bedeutung hat es längst nicht mehr. Am gleichen Abend, an dem die DDR in Brüssel antreten soll, werden in Moskau die Außenminister der alliierten Siegermächte und der beiden deutschen Staaten den Zwei-plus-Vier-Vertrag unterschreiben. In drei Wochen wird das Land wiedervereint und die DDR Geschichte sein. Der Fußballverband DFV hat seine Mannschaft bereits von der EM-Qualifikation abgemeldet. Dieses Länderspiel ist nur noch ein Freundschaftsspiel und ein Charaktertest – wer bekennt sich noch zu seinem Heimatland?
Sammer ist gerade 23 Jahre alt geworden und schon ein gestandener Spieler. Vor Kurzem ist er von Dynamo Dresden zum VfB Stuttgart gewechselt. Und am liebsten würde er sofort wieder dorthin reisen. Aber an diesem Abend geht kein Flug mehr von Berlin nach Stuttgart. Und so reist Sammer mit nach Brüssel zum 293. und letzten Länderspiel der DDR. Er wird es nicht bereuen. In Brüssel konzentrieren sich die Medien vor allem auf ihn, den Kapitän der Mannschaft. Dabei ist er nicht einmal der Erfahrenste – das ist Jörg Stübner. Der 25-Jährige hat bereits 46 Länderspiele und damit doppelt so viele wie Sammer. Stübner sieht aus wie ein Popstar, statt des üblichen Vokuhilas trägt er einen Popperschnitt. Zudem gilt er als einer der besten Spieler seiner Generation. Schon mit 20 hat er Michel Platini zur Verzweiflung getrieben und sich den Spitznamen „Rasenmäher“ verdient, weil er stets von der ersten bis zur letzten Minute rennt. Aber während Sammer geblieben ist, weil er nicht wegkommt, ist Stübner gekommen, weil er nicht weiß, wo er hin soll.
Die beiden sind die einzigen Etablierten in diesem letzten Aufgebot. Doch die Mannschaft rauft sich zusammen. „Wir hatten ein gemeinsames Ziel, nämlich uns so achtbar wie möglich zu schlagen“, sagte Stefan Böger, einer von ihnen, 2015 in einer TV-Dokumentation. „Das hat uns vereint.“
Spione in Wien
Während in Moskau die deutsche Zukunft besiegelt wird, verabschiedet sich also die DDR in Brüssel von der Fußballbühne. Vor einem Jahr sah es noch ganz anders aus. Im September 1989 übernahm Geyer das Team, das in der Qualifikation zur WM 1990 abgeschlagen zurücklag. Doch nach Siegen über Island und die Sowjetunion keimte wieder Hoffnung auf. Am 15. November 1989 musste die DDR in Wien gegen Österreich antreten. Ein Unentschieden hätte gereicht, und sie wären nach Italien gefahren.
Aber die Weltpolitik kam dazwischen. Eine Woche zuvor war in Berlin die Mauer gefallen. In Wien, das im Kalten Krieg den Ruf als Hauptstadt der Spione hatte, saßen bereits die Späher der deutschen Bundesliga-Klubs auf der Tribüne und sogar auf der Ersatzbank. „Plötzlich ist es für die Spieler nur noch darum gegangen, für welchen Verein sie zukünftig spielen werden“, sagte Geyer 2012 dem ballesterer. „Wie hätte unter diesen Bedingungen eine konzentrierte Vorbereitung stattfinden sollen?“ Das deutsche Team geriet früh in Rückstand und vergab einen Elfmeter. Anton Polster traf dreimal und schoss Österreich nach Italien. „Der DDR-Fußball war um eine weitere Enttäuschung reicher“, schrieb die Berliner Zeitung am Tag danach.
Der letzte Lambada
Die meisten Fußballfans in der DDR hatten zu ihrem Nationalteam kein inniges Verhältnis. Viele von ihnen sympathisierten mit der DFB-Mannschaft. Als diese im Sommer 1990 Weltmeister wurde, schwenkten auch die Menschen zwischen Rostock und Dresden ihre schwarz-rot-goldenen Fahnen, allerdings oft mit runden Löchern in der Mitte, dort, wo sie Hammer und Zirkel herausgeschnitten hatten.
Zwei Monate später, im September 1990, sind kaum Anhänger mit zum letzten Länderspiel gereist. Das Constant-Vanden-Stock-Stadion im Brüsseler Stadtteil Anderlecht ist nur etwas mehr als halb gefüllt. Ein letztes Mal ertönt die Hymne „Auferstanden aus Ruinen“. Anfangs tut sich die DDR gegen die technisch überlegenen Gastgeber schwer und hat Glück, nicht in Rückstand zu geraten, doch Mittelfeldstar Enzo Scifo trifft nur die Stange. Danach bekommen die Gäste die Belgier immer besser in den Griff, in der 73. Minute erzielt Sammer das 1:0 und erhöht nach einem Konter kurz vor Schluss auf 2:0. Kommentator Uwe Grandel zieht ein sarkastisches Fazit: „Eines der bemerkenswertesten Resultate in unserer Fußballgeschichte. Meist waren wir ja dann stark, wenn es um nicht viel ging, Sie wissen das, verehrte Fußballfreunde.“ Dann ist Schluss. Während sich die Spieler auf dem Feld die Hände reichen, ertönt aus den Stadionlautsprechern „Lambada“, der Sommerhit des Jahres 1989.
Deutsche Karrieren
Anschließend sitzen sie noch lange zusammen. Niemand will sich so recht losreißen. Irgendwann gehen sie doch, jeder für sich. Matthias Sammer gewinnt mit Stuttgart zwei Jahre später die Meisterschaft, 1996 wird er Europameister und zu Europas Fußballer des Jahres gewählt. Im Nachhinein wird seine Teilnahme an diesem letzten Länderspiel der DDR als Beweis seines Sportsgeists gewertet. Er selber sieht das nüchterner. „Manchmal wird man auch zu seinem Glück gezwungen“, sagte er 2015.
Während Sammer mit seinen Toren das Spiel entschied, musste Stübner nach nicht einmal einer halben Stunde verletzt hinaus. Dieses Spiel steht sinnbildlich für ihre weiteren Lebenswege. Denn so wie Sammers Laufbahn eine gesamtdeutsche Erfolgsgeschichte ist, so ist Stübners Leben danach eine Tragödie. Er fasst im Profisport nie Fuß, Alkoholprobleme kommen hinzu. Jahrelang lebt er vereinsamt und verarmt in Dresden. Er sei nicht zurechtgekommen mit der neuen Freiheit, sagte Stübner 2010 in einem Fernsehinterview. Im Sommer 2019 stirbt er im Alter von gerade einmal 53 Jahren.