Bisher hat Fußball für mich nach Pinien und Frittierfett gerochen und sich auf einem Fernsehbildschirm abgespielt, irgendwo auf einem Campingplatz in Südfrankreich. Doch vom Gefühl des WM-Sommers ist im Dezember 1990 im Bochumer Ruhrstadion nichts zu spüren. Es riecht nach Rauch und Rost. Die Temperaturen liegen knapp über null. Wir haben uns in olivgrüne Schlafsäcke gehüllt, 33.000 Zuschauer frieren mit uns.
In diesem Sommer habe ich im Urlaub den Fußball entdeckt, in diesem Sommer ist Wattenscheid 09 aufgestiegen. Neben dem VfL spielt nun ein zweiter Bochumer Verein in der Bundesliga. Ein Vorortklub mit einem finanzstarken Mäzen im Rücken. Eine kleine Sensation. Bayern-Manager Uli Hoeneß hat gezetert: „Das ist das Schlimmste, was der Bundesliga passieren konnte.“
Aus WAT wird BO
Für ganz Wattenscheid war Klaus Steilmann genau das Gegenteil. Der gebürtige Mecklenburger war in den 1950er Jahren in die Stadt gekommen und gründete das nach ihm benannte Textilunternehmen. Wenn es etwas Weltläufiges an Wattenscheid gab, war er es. Ein Aufsteiger der jungen Bundesrepublik, Mitglied des „Club of Rome“ und später sogar Generalkonsul der Ukraine. Kein reiner Mäzen, sondern ein Manager, der seiner Zeit in manchem voraus war. Seine Tochter Britta machte er zur ersten Managerin im deutschen Fußball.
Steilmanns großes Ziel war die Bundesliga. Dafür brauchte er einen langen Atem. Schon 1974 holte er klangvolle Namen wie den argentinischen Teamspieler Carlos Babington. Doch er setzte auch auf die Jugend. Aus dem Wattenscheider Nachwuchs gingen Spieler wie Yildiray Bastürk, Halil und Hamit Altintop und Kerem Demirbay hervor. Und auch Leroy Sane begann hier, Fußball zu spielen.
Steilmanns wichtigster Transfer war die Verpflichtung von Hannes Bongartz, der 1971 in Wattenscheid seine Profikarriere startete und 1989 als Trainer zurückkehrte. Mit ihm gelang ein Jahr später der Aufstieg in die Bundesliga. Zwei Jahrzehnte hatte Steilmann gebraucht, um sein Ziel zu erreichen. Jetzt war er endlich da. Und nun ging es gegen den großen Nachbarn, den von den Stadtoberen stets protegierten VfL.
Dass es überhaupt ein Stadtderby ist, ist ein Skandal. Denn Bochum hat Wattenscheid geschluckt, lange vor meiner Zeit. Im Zuge der Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen sollten Anfang der 1970er Jahre zahlreiche kleinere Städte mit größeren zusammengelegt werden. Die 80.000 Wattenscheider sollten von nun an Bochumer sein. Sie wehrten sich, demonstrierten zu tausenden vor dem Rathaus mit Plakaten, auf denen „Biafra im Ruhrgebiet“ und „Hände weg von Wattenscheid“ geschrieben stand. Einige Schüler verteilten sogar Umfragezettel in der Stadt. Die Mehrheit von mehr als 96 Prozent wollte unabhängig bleiben. Doch all das half nichts. 1975 wurde Wattenscheid eingemeindet. Die sichtbarste Veränderung war auf den Autokennzeichen zu sehen – aus „WAT“ wurde „BO“. Steilmann, prominenter Unterstützer des Widerstands, weigerte sich, das Kürzel anzunehmen. Er meldete sein Auto im benachbarten Essen an. Vielleicht hat ihn die Eingemeindung in dem Ziel, seinen Klub in die Bundesliga zu führen, noch bestärkt. Denn den konnten sie nicht einfach schlucken.
Auf Augenhöhe
Die Geschichte von den unterdrückten Wattenscheidern hatte mich so gepackt, dass meine Wahl eindeutig war. Der Hang meines Vaters zu hoffnungslosen Außenseitern tat sein Übriges. Ich wollte mit meinen sieben Jahren Rache auf dem Rasen. Die Bochumer mochten damals mehr Anhänger haben, aber Wattenscheid hatte einen, den sie nicht hatten: Souleymane, genannt „Samy“, Sane. Ausgesprochen wie „Zämmi Sahne“. So sagten es alle, die Fernsehreporter, die Fans, mein Vater und ich. Akzente wurden im Ruhrgebiet damals, wenn überhaupt, auf dem Platz gesetzt, nicht in der Sprache.
Der Senegalese war einer der ersten schwarzen Profis, die sich in der Bundesliga durchsetzten. Er trat dem Rassismus auf den Rängen offen entgegen. Bei einem Pokalspiel in Hamburg wurde er mit „Neger raus!“-Rufen beschimpft. Wattenscheid gewann 2:1, Sane traf doppelt und tanzte vor den HSV-Fans.
Sane lief die 100 Meter in weniger als elf Sekunden und schoss Tore ohne Ende. Noch schöner als all seine Tore war sein Jubel. Er schlug einen Salto – so lässig und beiläufig, dass Miroslav Klose vom bloßen Zuschauen wohl eine Zerrung bekommen hätte. Mit 39 Treffern in der ersten Liga ist Sane der erfolgreichste Torschütze der Vereinsgeschichte. Aber an diesem 8. Dezember 1990 traf er nicht – die Bochumer deckten ihn mit zwei Mann.
„Der braucht Platz!“, höre ich meinen Vater neben mir rufen. Ich weiß nicht mehr, was damals überwog – die Enttäuschung, dass Sane nicht traf und zur Halbzeit ausgewechselt werden musste. Oder die Wut auf die Bochumer, diese Spielverderber. 0:4 stand es am Ende. Ich erinnere mich noch an diesen Tag, als Wattenscheid 09 und ich nicht zueinanderfanden. Der Klub war fortan wie ein entfernter Bekannter, über den man ab und zu etwas hört und sich freut, dass er noch lebt.
Steil bergab
Vier Jahre hielten sich die Wattenscheider in der Bundesliga, schlugen zweimal die Bayern und auch den VfL. Als dieser 1993 erstmals abstieg, war Wattenscheid eine Saison lang der einzige Bochumer Erstligist. All das ist lange her. Der Abstieg begann 1994, als es auch für Steilmann zunehmend schlechter lief. Mit der SGW ging es steil bergab, bis hinunter in die sechste Liga. Danach stiegen sie immerhin wieder in die viertklassige Regionalliga auf, in der sie in den vergangenen sechs Jahren mit anderen gefallenen Traditionsklubs aus Essen, Oberhausen und Aachen ums Überleben kämpften.
Visionen gab es immer. Doch weder die Kooperation mit Galatasaray noch das Sponsoring durch ein Hamburger Start-up, das aus Wattenscheid 09 den digitalisiertesten Klub Europas machen wollte, brachten etwas. In den letzten Jahren häuften sich die Meldungen über ausstehende Gehälter, Beinahe-Insolvenzen und Streitigkeiten in der Führungsetage. Nun ist endgültig Schluss. Im August stellten die Verantwortlichen einen Insolvenzantrag, im Oktober musste die Kampfmannschaft abgemeldet werden. Der Spielbetrieb der Jugendmannschaften ist jedoch gesichert, sodass der Verein fortbesteht und nicht in der untersten Spielklasse neu starten muss. Wie und wo es weitergeht, ist ungewiss.
Mit Wattenscheid 09 geht wieder ein Stück Hoffnung, dass der Fußball noch einmal die Kurve kriegen könnte. Die Kleinen werden immer weniger, von den Großen abgehängt oder geschluckt. Seit 2012 dürfen die Wattenscheider immerhin wieder mit ihrem alten Autokennzeichen fahren. Ein allzu schwacher Trost.