Kaum lag der Zwischenbericht vor, teilten die Lobbyisten der Polizei aus: Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, sprach von einer sogenannten Studie. Die Gewerkschaft der Polizei in Bayern behauptete, es seien lediglich 1.000 Personen befragt worden, die sich womöglich sogar mehrfach beteiligt hätten. Die Fakten: Die Studie der Ruhr-Universität-Bochum ist in Deutschland einzigartig, sie untersucht Polizeigewalt aus Sicht der Betroffenen. Ausgewertet wurden 3.375 Fragebögen, deren Beantwortung so lange dauert wie eine Halbzeit eines Fußballspiels. Rund die Hälfte der geschilderten Fälle hat sich bei Demonstrationen und politischen Aktionen zugetragen, ein Viertel beim Fußball. Mehr als zwei Drittel der Befragten berichten von körperlichen Verletzungen, und nicht einmal zehn Prozent haben die erlebte Gewalt angezeigt.
ballesterer: Aktive Fans reden nicht gerne mit der Presse. Füllen sie gern Fragebögen für die Wissenschaft aus? Wie schwierig war es, Teilnehmer für die Studie zu finden?
Tobias Singelnstein: Wir haben Organisationen wie Fanhilfen gebeten, die Infos zu unserer Studie zu verbreiten, das hat dank des hohen Organisationsgrads relativ gut funktioniert. Wir haben ein starkes Bedürfnis erlebt, sich zum Thema rechtswidrige Polizeigewalt mitzuteilen. Es hat aber auch Vorsicht, Misstrauen und viele Nachfragen gegeben. Die Leute wollten wissen, was wir genau machen und warum und vor allem, wie wir mit ihren Daten umgehen und Anonymität sicherstellen.
In Ihrer Studie berichten Menschen von subjektiv als rechtswidrig erlebter Polizeigewalt. Wie stellen Sie sicher, dass Ihnen keine Gschichterln erzählt werden?
Vorweg: Das ist ein gängiges Vorgehen in der Dunkelfeldforschung, es gibt schlicht keine andere Möglichkeit, so etwas zu untersuchen. Die Alternative wäre, es bleiben zu lassen. Neben technischen Sicherungen gegen Mehrfachteilnahmen haben wir die Datensätze sehr sorgfältig geprüft und bereinigt. Wir haben etwa kontrolliert, wie schnell der Fragebogen ausgefüllt worden ist und ob immer Extremwerte angegeben wurden. Zudem haben wir die Antworten auf Kohärenz und Plausibilität geprüft. Am Ende haben wir aufgrund dessen mehr als 300 Fälle ausgeschlossen.
Haben Sie die Ergebnisse überrascht?
Richtig überrascht eher nicht, aber es gibt Dinge, die ich nicht in dieser Klarheit erwartet hätte. Zum Beispiel die schweren Verletzungen, von denen 19 Prozent der Befragten berichten. Da ist zwar ein Befragungseffekt dabei, also wer schwer verletzt wird, beteiligt sich eher an einer solchen Studie, aber das ist dennoch eine hohe Zahl. Was ich auch nicht so deutlich erwartet hätte, ist das Problem der Nichtidentifizierbarkeit, das sich gleich an zwei Stellen gezeigt hat. Vorfälle werden zum einen oft nicht angezeigt, weil die Polizisten nicht identifizierbar sind. Zum anderen ist bei den angezeigten Fällen gerade im Fußballkontext der häufigste Grund für die Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaften, dass Beamte nicht ermittelt werden konnten.
Wie unterscheidet sich der Fußball von den übrigen Untersuchungsfeldern?
Zunächst einmal berichten uns andere Leute, denn die Teilgruppe ist noch stärker männlich dominiert und weniger migrantisch. Es wird andere Gewalt angewendet, Pfefferspray spielt eine herausgehobene Rolle. Ähnlich wie bei Demonstrationen agiert die Polizei im Fußball anders als etwa beim Streifeneinsatz. Das liegt daran, dass es um eine Großlage geht, aber auch daran, dass es ein etabliertes Konfliktverhältnis gibt. Beide Seiten gehen mit bestimmten Erwartungen in das Geschehen hinein, und dadurch verlaufen die Interaktionen auf andere Weise.
Was ist das Besondere an Großveranstaltungen?
Sie sind stark von schnellen Eskalationsverläufen geprägt. Häufig reagiert die Polizei für die Beteiligten überraschend und unvorhersehbar. Bemerkenswert ist, dass die Betroffenen Gewalterfahrungen bei Großveranstaltungen weniger belastend empfinden als Personen in sonstigen Einsatzsituationen. Das kann daran liegen, dass sie bereits solche Erfahrungen gemacht haben und vielleicht sogar erwarten. Ein interessanter Befund in allen Gruppen ist, dass ein gewisser Teil der Leute angibt, als Unbeteiligte in Situationen hineingeraten zu sein. Diese Interaktionen zwischen Polizei und Betroffenen werden wir im zweiten Teil der Studie noch genauer analysieren.
Was kann die Polizei aus Ihrer Studie lernen?
Ich kann mir da einiges vorstellen. Beim Problem der Identifizierbarkeit könnte man durch eine flächendeckende Einführung der Kennzeichnungspflicht für Polizisten recht einfach Abhilfe schaffen. Ein weiteres Problem ist die geringe Anzeigebereitschaft. Dafür wird ein dominierender Grund genannt, nämlich dass die Leute glauben, ihre Anzeige werde ohnehin zu nichts führen. Da könnte man den Betroffenen einen besseren Rückhalt geben und sie darin bestärken, auf dem Rechtsweg vorzugehen.
Nur in einem geringen Teil der rund 3.000 Fälle in ihrer Studie ist es zu Ermittlungen gegen Beamte gekommen. Was lässt sich daraus für die Verbreitung von Polizeigewalt schließen?
Wir sehen im Sample der Studie ein Verhältnis von Hell- zu Dunkelfeld, also von erfassten Fällen zu nicht erfassten Fällen, von 1:6. Die Frage ist, wie man das auf die Gesamtgesellschaft übertragen kann. Das ist nicht ganz einfach, das Dunkelfeld ist jedoch sicherlich um ein Vielfaches größer als die offiziellen Zahlen zu rechtswidriger Polizeigewalt. Auch weil Leute, die Anzeige erstatten, eher an einer solchen Studie teilnehmen, also bei uns überrepräsentiert sind.
Die Interessensvertretungen der Polizei haben eher negativ auf Ihren Zwischenbericht reagiert. Welche Rückmeldungen erhalten Sie sonst?
Von Betroffenen bekommen wir positives Feedback, weil sie bislang den Eindruck gehabt haben, mit ihrer Version kein Gehör zu finden. Die Reaktion der Polizeigewerkschaften hat uns nicht überrascht. Ich würde mich freuen, wenn sie sich auf eine Sachdiskussion einlassen, weil das für die Institution wichtig wäre. Aus der Polizei erhalten wir sehr unterschiedliches Feedback. Da ist alles dabei, von „Super, dass das jemand untersucht“ bis „Ich sehe das ganz anders“. Bei den Rückmeldungen, die uns erreichen, dominiert das konstruktive Interesse.