Im Sommer wurde in Manchester renoviert – sowohl in Uniteds Old Trafford als auch im City of Manchester Stadium wurden einige neue Sesselreihen eingebaut. Je nach Klub sind sie rot oder blau, aber gemeinsam ist ihnen, dass sie nicht nur zum Sitzen gedacht sind. Es handelt sich um rail seats – die Schalen können hochgeklappt und in einem Metallgeländer fixiert werden. Der Tribünenabschnitt wird so in einen Stehplatzbereich verwandelt. Für Fans aus kontinentaleuropäischen Kurven klingt das wenig spektakulär, für die Premier League ist es eine Zeitenwende. Im September verkündete die britische Regierung, dass es ab Jänner 2022 einen Testbetrieb mit Stehplatzbereichen geben werde. Ab sofort können die Klubs um eine Teilnahme ansuchen. In der Folge könnte das Gesetz, das Stehplätze in den zwei höchsten Ligen in England und Wales verbietet, abgeschafft werden.
Sicherheitssitz
Als der Football Spectators Act im Parlament verabschiedet wurde, war Margaret Thatcher noch am Leben und Premierministerin. Seit August 1994 müssen dem Gesetz zufolge alle Stadien der zwei obersten Spielklassen reine Sitzplatzarenen sein. Steigt ein Klub in die Championship auf, hat er drei Jahre Zeit für die Umwandlung. Die Regelung geht auf die Empfehlungen des Taylor-Reports zurück, der nach der Katastrophe von Hillsborough angefertigt wurde, bei der im April 1989 fast 100 Liverpool-Fans im Stadion von Sheffield starben. „Natürlich ist es bequemer, während der Dauer eines Spiels zu sitzen statt zu stehen. Und es ist auch sicherer“, schrieb Peter Murray Taylor, der Leiter der Untersuchungskommission, in seinem Abschlussbericht. „Im Sitzen hat ein Zuschauer sein eigenes kleines Territorium, in dem er sich vergleichsweise geschützt fühlen kann.“
Der Zusammenhang zwischen den terraces, den alten Stehplatztribünen, und der Katastrophe von Hillsborough war schon zu Taylors Zeit nicht eindeutig – in seinem Zwischenbericht fehlt die Empfehlung reiner Sitzplatzstadien etwa. Inzwischen ist erwiesen, dass die Toten von Hillsborough nicht aufgrund der terraces ums Leben kamen. Doch die Stehplätze wurden in England in den folgenden Jahren zum Symbol für fehlende Sicherheit im Stadion. Was allerdings nicht bedeutet, dass alle Fans es so sahen wie Taylor. „In den 100 Jahren vor dem Taylor-Report hat die Mehrheit der Fans Spiele im Stehen verfolgt, und auch danach ist das Stehen nie ganz verschwunden“, schreibt die „Football Supporters’ Association“, FSA, die seit Langem für Stehplätze kämpft. „Das Bedürfnis danach ist in den letzten Jahren gestiegen, denn mit Stehplätzen ist es nun einmal lauter.“
Dass jetzt nach mehr als einem Vierteljahrhundert eine Gesetzesänderung in Sicht ist, hat mehrere Gründe. Einer ist die von der FSA angeführte Tatsache, dass Fans nie aufgehört haben zu stehen – und sich dieser Trend verstärkt habe. Persistent standing, also ständiges Stehen im Unterschied zum spontanen Aufspringen etwa beim Torjubel, ist ein Problem bei vielen Klubs. Es führt zu Konflikten zwischen Fans und Ordnern, aber auch zu Auseinandersetzungen unter Fans, wenn die stehenden Zuschauer anderen die Sicht nehmen. Dem pragmatischen Argument für gut gemanagte Stehplatzbereiche schloss sich im August Sportminister Oliver Dowden an: „Das ist einfach nur vernünftig, manche Fans stehen ohnehin die ganze Zeit, wir können das besser organisieren“, sagte er der Times.
Stimmungswandel
Neben der neuerlichen Untersuchung der Hillsborough-Katastrophe 2012 haben auch die Erfahrungen außerhalb Englands etwa in den Stadien der deutschen Bundesliga dazu beigetragen, die von Stehplätzen ausgehende Gefahr realistischer einzuschätzen. Um zu erkennen, dass Fußball im Stehen sicher ist, muss der Blick nicht einmal über den Kanal in Richtung Kontinent schweifen, sondern nur nach Norden: 2011 erlaubte die schottische Premier League die Einführung von Stehplatzbereichen, inzwischen verfügt der Celtic Park über 3.000 Stehplätze. Eine 2018 von der britischen Regierung beauftragte Studie untersuchte das Glasgower Modell und die Südtribüne in Dortmund mit ihren fast 25.000 Plätzen und kam zu einem klaren Ergebnis: Die Möglichkeit, zwischen Sitzen und Stehen wählen zu können, verbessert die Sicherheit im gesamten Stadion.
Die englischen Fans haben in den vergangenen Jahren einige Bündnispartner für ihre Kampagne gewonnen, auch unterhalb der Premier League. In der dritten und vierten Leistungsstufe wurde das Stehen nie verboten. Mit einer Einschränkung: Haben Klubs nach einem Aufstieg in die Championship ihre Stadien zu Sitzplatzanlagen umgebaut, dürfen sie die Umwandlung bei einem Abstieg nicht rückgängig machen. „Die English Football League hält die derzeitige Regelung nicht für angemessen“, sagte Geschäftsführer Shaun Harvey bereits 2018. Damals führte die EFL, also die Vereinigung der Klubs der zweiten bis vierten Spielklasse, gemeinsam mit der Fanorganisation FSA eine Umfrage unter mehr als 30.000 Fans zum Thema durch. 94 Prozent sprachen sich dabei für die Stehplätze aus.
Die Premier League hat sich lange bedeckt gehalten, aber nicht erst in diesem Sommer vorgebaut: In seinem im April 2019 eröffneten Stadion hat Tottenham bereits Bereiche des Heim- und Auswärtssektors mit rail seats ausgestattet. Die große Mehrheit der Anhänger habe sich dafür ausgesprochen, sagte Geschäftsführerin Donna-Maria Cullen. „Fans können im Sitzen nicht singen.“ Auch an Chelseas Stamford Bridge und Liverpools Anfield Road stehen Bereiche für erlaubtes Stehen im Testbetrieb bereit. Liverpool kommt dabei eine hohe Bedeutung zu, denn ein Widerstand wog besonders schwer – jener der Angehörigen der Hillsborough-Opfer. Margaret Aspinall, deren Sohn bei der Katastrophe starb und die lange gegen Stehplätze eintrat, hat sich überzeugen lassen: „Die Menschen denken heute anders darüber. Man muss mit der Zeit gehen“, sagte sie im Sommer.
Für die FSA ist die Ankündigung der Regierung ein Resultat ihrer jahrelangen Kampagne. Geschäftsführer Kevin Miles sprach von einem Sieg für jene, die sich nicht mit der Behauptung des Taylor-Reports zufriedengeben wollten. „Wir freuen uns, darauf mit dem einen oder anderen wohlverdienten Bier anzustoßen“, sagte er. Schon bald könnte das sogar bei einem Matchbesuch möglich sein. Über eine Abschaffung des seit 1985 geltenden Alkoholverbots auf den Tribünen wird derzeit ebenfalls diskutiert.