„Die Bedingungen stimmen einfach, die Plätze sind gut, die Berge nebenan, die Leute freundlich.“ Stanislaw Tschertschessow ist voll des Lobes, wenn er von Neustift im Stubaital spricht. Die Beziehung des russischen Teamchefs zu Tirol ist speziell, sechs Jahre stand er im Tor des FC Tirol, als Trainer machte er zunächst beim FC Kufstein, dann bei Wacker Innsbruck seine ersten Erfahrungen. In den letzten Jahren kehrte er nicht nur wegen des Studiums seiner Tochter regelmäßig in seine Wahlheimat zurück, sondern mitunter auch beruflich. Im Frühjahr bereitete er sein Team in Neustift auf den Confed-Cup vor. „Ich kann mir vorstellen, dass wir vor der WM im Mai erneut dort trainieren werden“, sagt er. Zum Interview trifft der ballesterer Tschertschessow in seinem Büro beim Russischen Fußballverband mitten im Stadtzentrum von Moskau, wo ihn eher Häuserschluchten umgeben als die geliebten Berge.
ballesterer: Als Gastgeber absolviert Russland im Vorfeld der WM nur Freundschaftsspiele. Wie gehen Sie damit um?
Stanislaw Tschertschessow: Vom ersten Tag an gilt: Bei uns gibt es keine Freundschaftsspiele, sondern nur Testspiele – im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht für die Spieler darum, einen Test zu bestehen. Jeder muss sich beweisen. Und wir nehmen diese Spiele sehr ernst. Wir haben in Moskau gegen Südkorea 4:2 gewonnen und in Kasan gegen den Iran 1:1 gespielt. Das waren gute Spiele gegen sehr verschiedene Mannschaften mit unterschiedlichen Taktiken.
Beim Confed-Cup im Juli hat Ihre Mannschaft gegen Neuseeland gewonnen, aber gegen Portugal und Mexiko verloren. Waren diese Spiele aufgrund des Turniercharakters etwas anderes?
Nein. Es war ein guter Test. Wir haben einige Fragen klären können: Welche Schwerpunkte wollen wir im Training setzen? Welche Spielerpersönlichkeiten nehmen wir mit? Dabei ist nicht nur entscheidend, wie jemand spielt, sondern auch, ob er dem Druck standhalten kann. Für uns hatte der Confed-Cup aber noch in anderer Hinsicht Testcharakter: für unsere Stadien, den Ticketverkauf, unsere Flughäfen und den Einsatz der Sicherheitskräfte. Jeder, mit dem ich gesprochen habe, war zufrieden. Die Stadien waren voll, das war ein schönes Turnier.
Wo ist der Unterschied, ob man zwei Stunden nach Petersburg fliegt oder nach Mailand? Es wäre besser, der eine oder andere Spieler würde tatsächlich in Mailand oder Liverpool spielen.
Spüren Sie als Teamchef des Gastgebers einen speziellen Druck?
Alle Ihre Kollegen fragen das. Ich verstehe nicht, was damit gemeint ist. Wir machen unseren Job, jeder hat seine Aufgabe. Das gilt gleichermaßen für mich wie die Spieler. Wir haben uns etwas vorgenommen, freuen uns auf jedes Trainingscamp und jedes Spiel. So läuft das.
Verglichen mit anderen WM-Teilnehmern stehen Ihnen nicht die ganz großen Stars zur Verfügung. Wie wollen Sie das kompensieren?
Na gut, wir haben vielleicht keinen Messi oder Ronaldo, aber schon den einen oder anderen guten Spieler. So geht es auch anderen Nationalteams. Dafür haben wir eine Taktik, ein System und die richtige Chemie innerhalb des Teams.
Aber auch eine junge, noch recht unerfahrene Mannschaft.
Es stimmt, dass 75 bis 80 Prozent der Spieler neu sind. Wir haben die Mannschaft verjüngt. Es gibt aber auch erfahrene Spieler, die auf die 30 zugehen. Nachdem ich das Team übernommen habe, haben wir viel geändert. Zum Beispiel haben wir auf eine Dreierkette umgestellt. Als sie im Confed-Cup das erste Mal auf dem Platz gestanden ist, hatte sie im Trainingslager gerade einmal ein Freundschaftsspiel gemeinsam absolviert.
Die Dreierkette haben Sie ja eher aus Verlegenheit eingeführt und es damit begründet, dass für die Viererkette zwei starke Innenverteidiger fehlten. Bleibt es dabei?
Viele Vereine in Russland spielen mit einer Dreierkette. Beim Nationalteam fehlt oft die Zeit, solche Abläufe zu ändern. Wir haben uns jetzt für die Dreierkette entschieden, das schließt aber nicht aus, dass wir es in Zukunft nicht einmal anders machen. Gegen Mexiko haben wir mit der Dreierkette begonnen und nachher mit einer Viererkette gespielt.
Abgesehen von Konstantin Rausch vom 1. FC Köln sowie Roman Neustädter von Schalke 04 sind Ihre aktuellen Spieler alle in Russland aktiv. Was bedeutet das für Ihre Aufgabe als Teamchef?
Viele sagen, es sei dadurch leichter, einen Spieler zu beobachten. Aber Entschuldigung: Wo ist der Unterschied, ob man zwei Stunden nach Petersburg fliegt oder nach Mailand? Es wäre besser, der eine oder andere Spieler würde tatsächlich in Mailand oder Liverpool spielen. Das bringt mehr Erfahrung und wäre eine Bereicherung für die Mannschaft. Aber es ist, wie es ist.
Wovon soll man träumen? Ich bin von der alten Schule. Es gibt keine Wünsche, es gibt Wahrheiten.
Im Fußball sind 85 Prozent Organisation – das sind Ihre Worte. Was müssen Sie in dieser Hinsicht bis zur WM noch erledigen?
Ich kann jetzt nicht großartig darüber spekulieren, was in sieben Monaten noch aussteht. Ich denke nicht so weit voraus. Wir konzentrieren uns von Tag zu Tag auf das, was zu tun ist. Soweit ich mich entsinnen kann, hat es noch kein Spiel gegeben, bei dem wirklich alle Spieler fit waren. Einmal ist der eine verletzt, dann der andere. Beim letzten Trainingslager waren fünf Stammspieler nicht dabei.
Sie haben Ihren Job einmal folgendermaßen definiert: Sie wollen aus Ihrer Mannschaft jeweils das Maximum herausholen. Wo liegt dieses Maximum beim russischen Nationalteam?
Dazu muss man, erstens, auf die Spiele schauen, die wir schon gemacht haben: Das erste war im September 2016 gegen Ghana, ein 1:0-Sieg im Stadion von Lokomotive Moskau. Damals waren zwei Drittel der Sitzplätze belegt. Seither waren alle unsere Heimspiele ausverkauft. Für unsere Fans sorgen wir also für Emotionen. Das ist unsere erste Aufgabe. Die erfüllen wir schön langsam. Alles Weitere hängt von der Auslosung ab. Erst dann können wir uns richtig auf unsere Gegner vorbereiten. Die Frage nach unseren Zielen ist, zweitens, schwierig zu beantworten: Es gibt einen einzigen Pokal, und den kann man mit niemandem teilen. Jeder, der ein bisschen Stolz hat, will um diesen Pokal kämpfen. Wir sind sicher keine Favoriten, aber man weiß ja nie, was kommt. Wir wollen jedenfalls ein richtig starker Gastgeber sein. Wichtig ist, dass alle Spieler dabei sind und wir eine gute Vorbereitung machen. Letztlich gilt: Erfolg ist das eine, ohne Glück geht es aber auch nicht.
Gibt es denn zumindest eine Wunschvorstellung?
Wovon soll man träumen? Ich bin von der alten Schule. Es gibt keine Wünsche, es gibt Wahrheiten.
In einem älteren Interview mit der „Tiroler Tageszeitung“ wurde über Sie einmal gesagt, dass Sie ein demokratischer Trainer seien – wie Sie mit den Spielern umgehen und auf Feedback reagieren.
Tatsächlich? Das höre ich zum ersten Mal. In Russland sagt man stets, ich sei ein harter Hund.
Wie sehen Sie sich denn selbst?
Kommunikation ist bei mir das A und O. Es ist ganz einfach: Wenn man miteinander spricht, gibt es eine Frage und eine Antwort. Ein Trainer braucht Sozialkompetenz. Meine goldene Regel lautet: Außerhalb des Platzes kann man über alles reden, sobald wir auf dem Platz sind, müssen wir arbeiten.
Wir haben fast ein Jahr lang keine Gehälter bekommen, keine Prämie, nichts – und trotzdem sind wir Meister geworden.
Und woher kommt die Vorstellung, Sie seien ein harter Hund?
Das weiß ich nicht. (lacht) Na ja, jeder nimmt die Dinge anders wahr. Was für den einen hart erscheint, ist für den anderen normal. Wichtig ist: Wenn du mit Spielern sprichst, musst du wissen, wovon du genau sprichst. Ein Spieler braucht ganz konkret und rechtzeitig eine Ansage und eine Aufgabe, kein Herumphilosophieren. Danach kann man reden, was gut und was schlecht war.
Bei der WM 2018 wird Deutschland als Titelverteidiger unter Joachim Löw dabei sein. Er war früher Ihr Trainer beim FC Tirol. Haben Sie von ihm etwas gelernt?
Ja, zum Beispiel genau das, worüber wir gerade gesprochen haben. Er war den Spielern gegenüber stets offen. Du kannst mit jeder Frage zu ihm gehen und bekommst immer eine Antwort. Ob sie dir gefällt, ist eine andere Sache.
Was war denn prägend für die Ära Löw in Tirol?
Der Verein hatte damals eine schwierige Zeit mit finanziellen Problemen. Wir haben fast ein Jahr lang keine Gehälter bekommen, keine Prämie, nichts – und trotzdem sind wir Meister geworden.
Nach dem Meistertitel ist dem Klub die Lizenz entzogen worden.
Löw hat sich in dieser schweren Zeit wie ein richtiger Anführer verhalten und uns zum Titel geführt. Das ist schon eine Kunst, oder? Sowohl von ihm als auch von der Mannschaft, die zusammengehalten hat. Für ihn war das der erste Titel, für uns der dritte. Mich überrascht nicht, dass er mit dem deutschen Nationalteam seinen Weg gegangen ist.
Damals waren Sie ein Publikumsliebling. Vermissen Sie die alte Zeit trotz der Schwierigkeiten manchmal?
Selbstverständlich vermisst jeder die Zeit, in der er Erfolge gefeiert hat. Aber ehrlich gesagt habe ich nicht viel Zeit zum Nachdenken. Ich muss mir über eine wichtige, interessante Aufgabe Gedanken machen, nicht um die Vergangenheit. Wenn ich in Pension gehe, schreibe ich meine Memoiren. Dann ist Zeit zum Vermissen.
Ihre Trainerkarriere haben Sie beim FC Kufstein in der Regionalliga West begonnen. Was war daran lehrreich?
Das war ein ganz bewusster Schritt. Du kannst nicht von heute auf morgen Real Madrid trainieren, während du selbst noch lernst. Was hätte ich Ronaldo zu sagen gehabt? Wenn du in Kufstein beginnst, kannst du dich als Trainer und Lehrer entwickeln. Damals galt: Not macht erfinderisch. Wenn du nichts hast und trotzdem etwas erreichen willst. Dort, aber auch in meiner Zeit bei Amkar Perm, habe ich gelernt, wie man eine Mannschaft aufbaut. Dass es nicht darum geht, Spieler zu kaufen, sondern sie wie ein Mosaik zusammenzufügen. Diese Formel schenkt dir keiner, die musst du ausprobieren. Das kannst du in Kufstein machen, aber nicht bei Real Madrid oder der russischen Nationalmannschaft. Da ist die Zeit für Experimente vorbei.
Stanislaw Tschertschessow (54) gewann als Tormann mit Spartak Moskau und dem FC Tirol je drei Meistertitel. Mit dem russischen Nationalteam nahm er 1994 und 2002 an der WM teil. Seine Trainerkarriere führte ihn unter anderem zu Wacker Innsbruck, Spartak Moskau, Terek Grosny, Amkar Perm, Dynamo Moskau und Legia Warschau. Seit Juli 2016 ist er Teamchef Russlands.
Mitarbeit: Dennis Grabowsky