Von „You’ll Never Walk Alone“ nimmt Sephton seit 46 Jahren bei jedem Spiel zur Sicherheit drei Platten mit.
Die rote Republik
Schon früh in der Saison ist der Liverpool FC unter Druck, die „Reds“ drohen, den Anschluss an die Spitzengruppe zu verlieren. Mitte Oktober steht das Schlagerspiel gegen den verhassten Rivalen Manchester United an, einige Medien spekulieren im Fall einer Niederlage mit der Ablöse von Trainer Jürgen Klopp. Die Anspannung ist vor Matchbeginn auch auf der Haupttribüne zu spüren, die Fans stehen dicht gedrängt, sie beschimpfen den Gegner und singen sich mit Liverpool-Chants ein. Als der Stadionsprecher die Vereinshymne „You’ll Never Walk Alone“ abspielt, strecken tausende ihre Schals in die Höhe und stimmen voller Inbrunst ein. Doch sobald Schiedsrichter Martin Atkinson die Partie anpfeift, kehrt Ruhe ein. Alle Fans setzen sich, in den folgenden 90 Minuten wird sich die überwiegende Mehrheit der 54.000 nur noch für den Weg zum Kiosk oder auf die Toilette erheben. Während sich am Feld die beiden Erzrivalen gegenüberstehen, wird auf den Tribünen geschwiegen. Das Spiel endet 0:0. Klopp bleibt Trainer, Liverpool Achter. Auf Tabellenführer Manchester City fehlen nach acht Spieltagen schon neun Punkte, auf den Zweiten Manchester United sieben.
Keine Chance auf Warteliste
Mit dem Meistertitel in der Premier League wird es auch heuer nichts werden. Zu stark ist die Konkurrenz aus Manchester, zu wenig konstant sind die Leistungen der „Reds“. Immerhin dürfte in der Champions League der Aufstieg ins Achtelfinale gelingen. Das ist auch der Bewerb, in dem Liverpool die größten Erfolge dieses Jahrtausends feiern konnte. 2005 holte der Klub den Titel, 2007 stand er im Finale. Doch in den vergangenen Jahren tat sich der Klub auch dort schwer, in den letzten zehn Saisonen konnte sich Liverpool nur dreimal für die Eliteliga qualifizieren.
Den letzten Meistertitel holten die „Reds“ 1990 unter Vereinslegende Kenny Dalglish als Spielertrainer. Damals hieß die Liga noch First Division, Liverpool war mit 18 Titeln überlegener Rekordmeister, und Manchester United stand bei sieben gewonnenen Meisterschaften. Doch in 25 Premier-League-Saisonen ging der Titel 13-mal an United, das dadurch zum Rekordhalter wurde. Während der nur 50 Kilometer entfernte Rivale zum neuen Aushängeschild des englischen Fußballs aufstieg, begann für den Liverpool FC eine Suche nach sich selbst.
Davor war Liverpool jahrzehntelang nicht nur für sportliche Erfolge berühmt, sondern auch für die einzigartige Stimmung in Anfield. „The Kop“ mit seinen Gesängen wurde schon in den 1960er Jahren zur legendären Fantribüne. Was sich dort bei Heimspielen zutrug, galt in Sachen Support über Jahrzehnte hinweg als Maßstab. „Wenn man nicht zwei Stunden vor Spielbeginn im Stadion war, hatte man keine Chance auf einen guten Platz“, sagt George Sephton. Der 71-Jährige arbeitet seit 1971 als Stadionsprecher beim Klub. Die Fans nennen ihn „The Voice of Anfield“. Als er den ballesterer in seinem Zuhause in einer Reihenhaussiedlung unweit des Stadions in Empfang nimmt, stellt er gerade die Playlist für die zwei Stunden vor dem Match am darauffolgenden Tag zusammen. Das Drumherum sei heute natürlich ganz anders als noch in den 1970er und 1980er Jahren. Sein Job aber, der habe sich kaum verändert. Von „You’ll Never Walk Alone“ nimmt Sephton seit 46 Jahren bei jedem Spiel zur Sicherheit drei Platten mit.
Die Hymne hat es aus Anfield in die Welt und ins Repertoire anderer Klubs geschafft, und auch der Mythos Liverpool lebt. Für Saisonabos gibt es eine derart lange Warteliste, dass sie wegen des massiven Andrangs derzeit geschlossen ist. Eine im Auftrag des Vereins durchgeführte Studie weist weltweit 580 Millionen Fans und Sympathisanten aus. In der Rangliste des Unternehmens Brand Finance über die weltweit stärksten Fußballmarken liegt Liverpool auf Rang neun.
Karten ab 300 Euro
Doch nicht nur der Verein hat sich verändert, auch die Stadt war in den letzten Jahrzehnten einem drastischen Wandel ausgesetzt. Mit diesen Veränderungen kämpft die traditionelle Arbeiter- und Hafenstadt im Norden Englands noch heute. „Den Menschen in Liverpool war die lokale Identität immer wichtiger als die nationale“, sagt Clifford Stott, Professor der Sozialpsychologie an der Keele University und Liverpool-Fan. „Man spricht oft von der Republic of Liverpool.“ Das geografische Zentrum dieser Republik heißt seit umfassenden Modernisierungs- und Sanierungsarbeiten Liverpool ONE und gleicht einem Freiluftshoppingcenter. Auf einer Fläche von 234.000 Quadratmetern finden sich 170 Geschäfte. Rund eine Milliarde Euro wurde investiert, um Liverpool für das Jahr als Kulturhauptstadt Europas 2008 herauszuputzen. Verlässt man das Stadtzentrum, zeigt sich das alte Liverpool. Die Straßen sind staubig und schmutzig. Während im Zentrum neue Läden eröffnet wurden, schlossen hier Geschäfte und Lokale. Eine 20-minütige Busfahrt vom alten Hafen entfernt, liegt im Nordwesten der Stadt Anfield. Dort findet man heute vorwiegend Imbisse und Billigläden. Eine Wohnstraße reiht sich an die nächste, vor vielen der kleinen, leerstehenden Einfamilienhäuser verkündet ein Schild: „For Sale“. Am Spieltag jedoch sind die Pubs schon am Vormittag überfüllt, Matchbeginn ist um 12.30 Uhr.
Während weltweit Pauschalreisen zu Fußballspielen an die Anfield Road gebucht werden, können sich die meisten Bewohner der Stadt keine Eintrittskarten leisten.
In den Pubs stoßen auch einige Fans an, die nicht ins Stadion gehen werden. Tickets für das Match gegen Manchester United werden am Schwarzmarkt ab 300 Euro gehandelt. Das günstigste Saisonabo liegt bei rund 800 Euro. Als Konsequenz aus der Stadionkatastrophe von Hillsborough im Jahr 1989 wurden Stehplätze in den englischen Stadien verboten. Die Ticketpreise stiegen massiv, der Stadionbesuch ist zum Luxusgut geworden. Speziell in Liverpool, der Großstadt mit der höchsten Arbeitslosenquote in Großbritannien, die hier bei fast 15 Prozent liegt. In manchen Bezirken hat jeder zweite Einwohner keine Beschäftigung. Das jährliche Haushaltseinkommen von 27.000 Pfund liegt rund 10.000 Pfund unter dem landesweiten Schnitt. Während weltweit Pauschalreisen zu Fußballspielen an die Anfield Road gebucht werden, können sich die meisten Bewohner der Stadt keine Eintrittskarten leisten. Für jedes Spiel legt der Verein 500 Tickets zu einem Preis von acht Pfund auf. „Das ist eine tolle Geste“, sagt Dave Phillips beim Gespräch in einem Pub in der Innenstadt. Er hat in Liverpool Football & Business Economics studiert und als freier Wirtschaftsjournalist jahrelang für Zeitungen wie den Guardian und den Daily Mirror geschrieben. „An der Zusammensetzung des Publikums hat das aber wenig verändert“, sagt er. „Der Spitzenfußball wurde gentrifiziert“, sagt auch Sozialpsychologe Stott, der zur englischen Fankultur geforscht hat. „Die Stadien in der Premier League können ziemlich steril und langweilig sein.“
Ein Liverpooler Betrieb
Auch die Mehrheitseigentümer des Vereins kommen nicht mehr aus Liverpool. Seit 2010 ist der Liverpool FC im Besitz der US-amerikanischen Fenway Sports Group und dessen Hauptaktionär John Henry, dem auch die Boston Red Sox in der Major League Baseball gehören. „Die großen Fußballfans sind das natürlich nicht“, sagt Phillips. „Ich schätze, dass Henry im letzten Jahr bei drei oder vier Spielen war.“ Trotzdem ist das Engagement der Eigentümer nicht zu übersehen. Zwischen 2014 und 2016 wurde die Haupttribüne des Stadions um fast 10.000 Plätze erweitert und modernisiert, bis 2019 soll der Verein ein neues Trainingszentrum bekommen. Gut 300 Millionen Pfund kosten die Maßnahmen, immerhin steigen durch die höhere Kapazität des Stadions auch die Einnahmen. „Man kann den Besitzern kaum einen Vorwurf machen“, sagt Phillips. „Sie sind nicht nur auf schnellen Profit aus.“
„Der moderne Fußball funktioniert relativ simpel. Wenn du gewinnen willst, musst du der mit dem meisten Geld sein.“
In vier der letzten sechs Jahre hat die Fenway Sports Group mit ihrem Fußballverein Verluste geschrieben. Titel hat der Klub bis auf den League Cup 2012 nicht gewonnen. Denn auch wenn Liverpool spendierfreudige Eigentümer hat – es gibt noch finanzkräftigere Teams im englischen Fußball. Manchester United, Manchester City, Arsenal und Chelsea generieren alle einen höheren Umsatz. Bei den Transferausgaben vor der aktuellen Saison rangierte Liverpool auf Rang sechs. „Der moderne Fußball funktioniert relativ simpel“, sagt Phillips. „Wenn du gewinnen willst, musst du der mit dem meisten Geld sein.“
1961 war vom modernen Fußball noch keine große Rede. Bill Shankly, der Liverpool 15 Jahre lang trainieren sollte, war gerade in seiner dritten Saison mit den „Reds“. In den ersten beiden Jahren hatte er den Aufstieg in die erste Liga knapp verpasst. Die großen Erfolge des Vereins, immerhin fünf Meistertitel, lagen einige Jahre zurück, 1954 war der Klub das erste Mal seit 50 Jahren abgestiegen. Dann aber hob der Verband 1961 die Gehaltsobergrenze für Fußballer auf. Gleichzeitig kaufte der Liverpooler Geschäftsmann John Moores 51 Prozent der Klubanteile. Mit dem frischen Kapital verpflichteten die „Reds“ Ian St. John von Motherwell und Ron Yeats von Dundee United, die dem Verein für das nächste Jahrzehnt Torgefahr im Sturm und Stabilität in der Abwehr garantieren sollten. 1962 gelang der Aufstieg, 1964 wurde der Klub Meister, 1966 folgte der nächste Titel.
„Moores wollte nie Geld mit dem Fußball verdienen“, sagt Journalist Phillips. „Er wollte den Verein zum besten des Landes machen.“ Reich war Moores ohnehin schon mit dem von ihm gegründeten Unternehmen Littlewoods geworden. Ursprünglich als Wettanbieter lanciert, wurde Littlewoods bald auch ein Versandhandel und später eine Einzelhandelskette. Die Zentrale war in Liverpool und das Unternehmen in den 1960er und 1970er Jahren einer der größten Arbeitgeber der Stadt.
Tragödie in Kennys Königreich
Zwischen 1977 und 1984 gewann Liverpool viermal den Cup der Landesmeister und sechsmal die Meisterschaft. „Wir kamen uns unbesiegbar vor“, sagt Stadionsprecher Sephton. „Die Gegner haben kaum noch damit gerechnet, dass sie gegen uns eine Chance haben.“ Mit Ian Rush und Kenny Dalglish im Sturm, Steve McMahon im Mittelfeld und Phil Thompson in der Verteidigung war das Team von Trainer Bob Paisley das Maß aller Dinge im europäischen Klubfußball. „Rush war ein genialer Stürmer, McMahon hatte eine irrsinnige Übersicht, und gegen Thompson wolltest du auf gar keinen Fall spielen“, sagt Sephton. „Aber der Größte war Kenny. Sie nennen ihn nicht umsonst den König.“ 13 Jahre spielte Dalglish für Liverpool, in 515 Pflichtspielen erzielte er 172 Tore. Doch die Zahlen können seine Geschichte nicht einmal annähernd erzählen: Spiel um Spiel holte sich Dalglish die Bälle aus dem Mittelfeld, setzte Rush in Szene oder nutzte jene Räume, die ihm sein Sturmpartner verschaffte. Weder überbordendes Talent noch eine dominante Physis machten ihn zu dem brillanten Spieler, der er war: Es war das Wissen, wann er wo auf dem Platz zu sein hatte. Die letzten fünf Jahre seiner Karriere agierte Dalglish als Spielertrainer. 1990 gewann das Team unter seiner Führung den Meistertitel, und „King Kenny“ beendete seine aktive Karriere. „Kenny war ein perfekter Teamspieler, der sich nie über die Mannschaft stellte“, sagt Sephton. „Er hat gewusst, was es bedeutet, für Liverpool, als Stadt und als Verein, zu spielen.“ Zwei Tage nach der Katastrophe im Hillsborough Stadium von Sheffield, bei der am 15. April 1989 fast hundert Liverpool-Fans starben, kam Trainer Dalglish zum „Kop“. Tausende Schals, Blumen und Erinnerungsstücke von Fans aus Liverpool, aber auch aus anderen Teilen der Welt, lagen auf der Fantribüne. Dalglish kam unbegleitet von den Medien, mit seinen zwei Kindern. „Es war der traurigste Anblick, den ich je erlebt habe“, schreibt er in seiner Autobiografie „My Liverpool Home“. „Aber es war auch der schönste: Weil so viele Menschen ihre Solidarität zeigten, auch solche, die noch nie in Anfield waren.“
Für den Liverpool FC war der 15. April 1989 eine Zäsur, die Stadt selbst befand sich schon lange im Umbruch. Die englische Wirtschaft geriet in den 1970er Jahren endgültig in die Krise, und Liverpool wurde zum Opfer des Strukturwandels. Nach der Unabhängigkeit der Kolonien und dem britischen EU-Beitritt 1973 büßte die einst so wichtige Hafenstadt an Bedeutung ein. Sie lag plötzlich auf der falschen Seite der Insel, der Handel folgte nun neuen Routen. Weite Teile des Hafens wurden geschlossen. Zwischen 1972 und 1982 gingen dort 80.000 Arbeitsplätze verloren, in der Stadt waren zu Beginn der 1980er Jahre knapp 20 Prozent arbeitslos. Die Menschen verließen Liverpool: Von den annähernd 800.000 Bewohnern, die 1951 in der Stadt gelebt hatten, waren 1981 nur noch 500.000 übriggeblieben. „Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie es war, damals durch die Stadt zu gehen“, sagt Phillips. „Wo jetzt Liverpool ONE ist, war damals jede zweite Fensterfront vernagelt.“
Stadt im Aufstand
Wäre es nach Margaret Thatcher gegangen, würde es heute wohl in der ganzen Stadt so aussehen. Sie war 1979 mit dem Versprechen zur Premierministerin gewählt worden, das Land zu modernisieren und die öffentlichen Ausgaben zu kürzen. Es waren Versprechen mit verheerenden Folgen für Liverpool: Ihr Kabinett diskutierte ernsthaft, die Stadt dem Verfall preiszugeben. Finanzminister Geoffrey Howe meinte, es sei Geldverschwendung, Liverpool wiederbeleben zu wollen. „Das ist so, als ob man versuchen würde, Wasser aufwärts zu pumpen“, wird er in Regierungsmemos zitiert, die erst 2011 veröffentlicht wurden. Liverpool ließ sich das nicht gefallen, die Stadt wurde zum Symbol für den Kampf gegen Thatcher. Schon früh gab es im Norden Englands Proteste gegen die Premierministerin, im Sommer 1981 kam es in Liverpool zu wochenlangen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten.
In den darauffolgenden Wochen brannten 100 Autos und 70 Häuser aus, rund 500 Menschen wurden verhaftet.
Der Schauplatz war damals der Arbeiterbezirk Toxteth, rund 20 Gehminuten südlich des Zentrums. Die Arbeitslosigkeit betrug hier 60 Prozent, die Bewohner waren von der Schließung des Hafens besonders stark betroffen. Auch in der karibischen Community, deren Einwohner auf der Suche nach einem besseren Leben aus den ehemaligen Kolonien nach England gekommen waren. Was sie fanden, war Rassismus und Ausgrenzung. Als Jugendliche am 3. Juli 1981 Zeugen der brutalen Verhaftung des Schwarzen Leroy Cooper wurden, kam es zu ersten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Bewohnern. In den darauffolgenden Wochen brannten 100 Autos und 70 Häuser aus, rund 500 Menschen wurden verhaftet. Ein Demonstrant starb, als die Polizei beim Versuch, die Menge auseinanderzutreiben, mit voller Geschwindigkeit durch einen Protestzug fuhr. „Die Medien haben damals geschrieben, dass nur Schwarze protestiert hätten“, sagt Clifford Stott. „Das ist Unsinn. Weiße und Schwarze haben gemeinsam ihrer Wut gegen das, was sie als Establishment betrachtet haben, freien Lauf gelassen.“
Heute ist in Toxteth nicht viel los, der Aufschwung im Stadtzentrum ist hier nicht zu spüren. Entlang der Park Road, einer der Hauptstraßen des Viertels, findet sich eines der wenigen Pubs, die der Gegend geblieben sind: The Globe. Vor 40 Jahren habe sich hier ein Lokal an das andere gereiht, erzählt Eigentümer Collin. „Heute bleiben die Leute zu Hause, weil sie es sich nicht leisten können auszugehen“, sagt er. Viele Pubs hätten auch schließen müssen, weil die Lizenz für die Übertragung der Premier-League-Spiele zu teuer geworden sei. Dass sich das Viertel noch einmal zum Besseren verändern könnte, daran glaubt Collin nicht. „Wir kommen aus der Arbeiterklasse, für uns tut niemand etwas“, sagt er. Aber unten, am alten Hafen, da würden moderne Wohnungen entstehen. „Für die reichen Leute aus London“, sagt er.
Thatchers Kriege
Auf die Proteste von 1981 folgte der Widerstand der Kommunalregierung. Im Mai 1984 sagte die neugewählte linksradikale Stadtverwaltung der Regierung in London den Kampf an. Dem Verfall der Stadt setzte sie Maßnahmen zur Regenerierung entgegen: 1985 verabschiedete sie ein Budget, das in Thatchers England illegal war. Es sah den Bau von 5.000 Wohnhäusern, zwölf Schulen und sieben Sportzentren vor, auf Gegenfinanzierung verzichtete die Stadt. Die Regierung aber schrieb den Städten vor, ausgeglichene Budgets vorzulegen, und verlangte von Liverpool, 1.200 Angestellte zu entlassen, um 30 Millionen Pfund einzusparen. „Sie wollte, dass die Stadt verrottet“, sagte der damalige stellvertretende Vorsitzende des Stadtrats, Derek Hatton, später dem Independent. „Sie hatte uns den Krieg erklärt.“ Thatcher blieb eisern. Die Regierung gab der Stadt keine Mittel, die Verwaltung musste einen Kredit aufnehmen. „Am Ende hat Thatcher gewonnen“, sagt Hatton. „Aber die 5.000 Häuser stehen immer noch, und darauf bin ich stolz.“
„Was wir nie vergessen sollten: Diese Frau hat die Arbeiterklasse gehasst. Und sie hat den Fußball gehasst.“
Auch im Fußball fand die konservative Regierung ein nützliches Feindbild. Der alte Sport der Arbeiterklasse passte nicht in das neue Weltbild. „Für Margaret Thatcher und ihre Vertrauten steht Fußball für all das, was das moderne Großbritannien hinter sich lassen will: den industriellen Norden, die unangepasste Jugend und die kaputten Innenstädte“, schrieb der Economist 1989. Nach der Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion im Mai 1985 sah Thatcher die Gelegenheit gekommen. Beim Europacup-Finale zwischen Liverpool und Juventus hatten englische Hooligans eine Sektorsperre durchbrochen und Jagd auf gegnerische Fans gemacht. Diese flüchteten in Richtung einer Mauer am Ende ihres Sektors, die unter dem Druck der anstürmenden Menge einstürzte. 39 Juventus-Fans starben. Noch bevor die UEFA eine Sperre aussprach, forderte Thatcher vom englischen Verband, die Klubs bis auf Weiteres von europäischen Wettbewerben auszuschließen. Über die Verantwortung der Behörden verlor sie kein Wort. „Was wir nie vergessen sollten: Diese Frau hat die Arbeiterklasse gehasst. Und sie hat den Fußball gehasst“, schrieb David Maddock Jahre später im Daily Mirror.
Die Wahrnehmung von Fußballfans als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung war in den 1980er Jahren aber auch in den Medien omnipräsent. Nach Heysel schrieb der Guardian von betrunkenen Idioten, die die Katastrophe verursacht hätten. Zwei Jahre später nannte die Sunday Times Fußball einen primitiven Sport, der von primitiven Zusehern in primitiven Stadien verfolgt werden würde. Die Liverpool-Fans, die mit den „Kop“-Gesängen die englische Fankultur berühmt gemacht hatten, wurden zum Symbol von deren Untergang. Vom Europacup waren englische Vereine fünf Jahre lang ausgeschlossen, der Liverpool FC sechs. In den zehn Jahren vor Heysel hatten englische Vereine siebenmal den Meistercup geholt, danach dauerte es bis 1999, ehe Manchester United den nun in der Champions League ausgespielten Pokal wieder auf die Insel holte.
Neue Spielregeln
Thatcher trat 1992 zurück und hinterließ ein England, das sich radikal verändert hatte: Die öffentlichen Ausgaben waren landesweit gesunken, die Bergbauindustrie abgewickelt, die Gewerkschaften zerschlagen. Der Siegeszug des Neoliberalismus schien unaufhaltbar, auch New Labour sollte sich an der radikalen Marktgläubigkeit orientieren. Im Fußball stand die Entsolidarisierung ebenfalls an der Tagesordnung, 1992 traten die Mannschaften der First Division geschlossen aus der FA aus und formten die Premier League. Die Einnahmen der Klubs wurden nicht mehr mit den niedrigeren Spielklassen geteilt, die neue Liga vermarktete ihre Fernsehrechte exklusiv. „A whole new ballgame“ versprach die Premier League, ein ganz neues Spiel sollte es werden.
„Wir waren reich. Aber nicht reich genug, um mit den anderen Klubs mithalten zu können.“
Und tatsächlich wurden die Kräfteverhältnisse ordentlich durchgerüttelt: Liverpool kam in den ersten drei Saisonen nie über Platz vier hinaus. Nach dem Rücktritt von Trainer Dalglish 1991 und dem Wechsel von Rush zu Leeds United 1996 litt der Verein nicht nur unter ausbleibenden Erfolgen, sondern auch unter fehlenden Identifikationsfiguren. Für neue Ikonen wie die Eigenbauspieler Steve McManaman und Michael Owen war Liverpool das Sprungbrett für einen Wechsel zu größeren Klubs. Als Nationalteamspieler gingen sie zu Real Madrid, Owen später sogar zum Erzrivalen Manchester United. Der aus Toxteth stammende Robbie Fowler wechselte 2001 zu Leeds United. Gerade für die Anhänger der „Reds“ war ein Bekenntnis der Spieler zur Stadt von enormer Bedeutung. „Wir brauchen Scousers“, sagt Stadionsprecher Sephton, also gebürtige Liverpooler.
Doch nicht nur die Spieler dachten immer stärker global statt lokal. „Mit der Einführung der Premier League drängten plötzlich internationale Großkonzerne auf den Fußballmarkt“, sagt Journalist Phillips. „Am Anfang hat nur Manchester United kapiert, was das bedeutet.“ Schon 1991 ging United an die Börse und steigerte die Umsätze Jahr für Jahr. „Zur selben Zeit haben die Moores den Liverpool FC noch immer wie ein kleines Geschäft am Eck geführt“, sagt Phillips. Und wie das bei kleinen Familienbetrieben so ist, wurde auch dieses irgendwann aufgegeben. 2004 kündigte David Moores, der Neffe des verstorbenen John, an, seine Klubanteile verkaufen zu wollen. „Wir waren reich“, sagte Moores später. „Aber nicht reich genug, um mit den anderen Klubs mithalten zu können.“
An Moores Entschluss, den Verein zu verkaufen, konnte auch die Rückkehr Liverpools auf den europäischen Thron 2005 nichts ändern. Nach einem dramatischen Halbfinale gegen Chelsea siegte die Mannschaft von Rafael Benitez in einem noch dramatischeren Champions-League-Finale in Istanbul. Zur Pause war sie gegen den AC Milan schon 0:3 zurückgelegen. Die Aufholjagd startete Steven Gerrard, der Kapitän. Gerrard wuchs in Merseyside auf, spielte schon als Achtjähriger für Liverpool und ist eng verbunden mit der dunkelsten Stunde des Vereins. Sein Cousin Jon-Paul war als Zehnjähriger das jüngste Todesopfer in Hillsborough.
Versprechen und Symbolpolitik
Im 21. Jahrhundert ist auch der Liverpool FC im modernen Fußball angekommen. Dazu gehören Eigentümer, die nicht den besten Verein des Landes aufbauen, sondern vor allem Geld verdienen wollen. 2007 kauften die amerikanischen Geschäftsleute Tom Hicks und George Gillett der Familie Moores den Klub ab. Sie versprachen, was die Fans hören wollten: die Rückkehr zu alter Größe, den Bau eines neuen Stadions und keine Kopie des in Manchester praktizierten Modells der Glazers. Bei United hatte die Eigentümerfamilie den Klub zum Abbau der eigenen Schulden benutzt und die Fans auf die Barrikaden getrieben. Keines der Versprechen wurde eingehalten, Hicks und Gillett verzettelten sich zudem in Streitereien über den richtigen Kurs. „Hicks, Gillett and Liverpool FC: The marriage made in hell“ überschrieb das Liverpool Echo den Rückblick auf die Verbindung, die nach dreieinhalb Jahren wieder endete. Hicks und Gillett hatten zu große Darlehen bei der Royal Bank of Scotland aufgenommen, 2010 wurden sie vor Gericht als nicht vertrauenswürdig erachtet und mussten den Klub wieder verkaufen. Die Fans sehnten den Abgang der beiden schon lange herbei. „Thanks, but no yanks“ war auf einem von zahlreichen Spruchbändern zu lesen.
Die 1970er und 1980er Jahre, als der Liverpool FC die beste Mannschaft in England und auf dem Kontinent war, wirken wie ferne Träume. Der Klub ist tief gefallen.
Die heutigen amerikanischen Eigentümer, die Fenway Sports Group, führen den Klub deutlich behutsamer als ihre Vorgänger. Der Kaufpreis von 300 Millionen Pfund wirkt mit ein paar Jahren Abstand wie ein Schnäppchen, denn mittlerweile schätzt das Wirtschaftsmagazin Forbes den Wert des Liverpool FC schon auf 1,1 Milliarden. „In ein paar Jahren werden sie den Klub wahrscheinlich verkaufen“, sagt Journalist Phillips. „Das ist einfach die Logik des Spiels.“ Statt auf leere Versprechen setzt die Fenway Sports Group auf symbolische Gesten. So wurde im Herbst 2017 ein lang gehegter Wunsch der Fans erfüllt und die Gegengerade in Kenny Dalglish Stand umbenannt. Fünf Jahre zuvor allerdings war für die Vereinslegende kein Platz mehr in Anfield gewesen. Im Jänner 2011 hatte der Klub Dalglish 20 Jahre nach seinem letzten Spiel auf der Bank erneut als Trainer verpflichtet. Dalglish übernahm die Mannschaft vier Punkte vor einem Abstiegsplatz und führte sie noch auf Rang sechs. In der folgenden Saison erreichte Liverpool das FA-Cup-Finale und gewann den League Cup, wurde in der Liga jedoch nur Achter – und verpasste damit den Europacup. Dalglish wurde entlassen.
Cloud Over Liverpool
Das Ziel der Qualifikation für die lukrative Champions League ist auch in Liverpool oberstes Gebot. Für Stadionsprecher George Sephton allerdings nicht. „Heute reden alle nur noch vom Ziel, in der Champions League zu spielen“, sagt er. „Aber was wirklich zählt, ist der Meistertitel.“ So nah wie seit Jahrzehnten nicht kam Liverpool diesem Traum in der Saison 2013/14. Nach acht Siegen in Folge und einem 3:2 gegen Verfolger Manchester City war der Titel zum Greifen nah, doch Liverpool vergab seine Chance durch eine 0:2-Heimniederlage gegen Chelsea. Ausgerechnet Steven Gerrard war ein folgenschwerer Fehler unterlaufen, er rutschte unbedrängt im Mittelfeld aus und ermöglichte Chelsea ein billiges Führungstor. Einmal mehr hatte der Verein seinen Anhängern ein großes Drama geboten.
Auf Emotionen setzt Liverpool seit Sommer 2015 auch mit der Trainerwahl. Jürgen Klopps Offensivfußball, sein leidenschaftliches Auftreten am Spielfeldrand und seine unterhaltsamen Pressekonferenzen machten ihn bei den Fans schnell beliebt – und zu einem zusätzlichen Geschäft. Der Fanshop führt eine eigene Klopp-Kollektion. Auch beim Spiel gegen Manchester United sind zahlreiche Klopp-Fanutensilien zu sehen, vereinzelt tragen Fans sogar Masken mit dem Konterfei des Deutschen. Die Popularität unter den Anhängern hat sich Klopp auch international erarbeitet. In seiner ersten Saison schlug Liverpool wieder Europacupschlachten, die an vergangene Tage erinnerten – wenn auch nur in der Europa League. Im Viertelfinale besiegten die „Reds“ Borussia Dortmund nach 1:3-Rückstand noch 4:3. Der Weg führte bis ins Finale nach Basel. Dort erwies sich der FC Sevilla als eine Nummer zu groß, Liverpool verlor 1:3.
Die 1970er und 1980er Jahre, als der Liverpool FC die beste Mannschaft in England und auf dem Kontinent war, wirken wie ferne Träume. Der Klub ist tief gefallen. Ein Abend in Brüssel, ein Nachmittag in Sheffield und die Umwälzungen im englischen Fußball und der Gesellschaft haben den Verein gezwungen, sich neu zu erfinden. „Der Klub hat sich stark verändert, aber er bedeutet uns noch immer unglaublich viel“, sagt George Sephton. Das Gefühl der Unbesiegbarkeit aus der Vergangenheit ist längst geschwunden, am Tisch der Großklubs der Premier League nimmt Liverpool trotz des Aufschwungs der letzten Jahre einen Platz am Rand ein. Doch aus der Hillsborough-Katastrophe haben Verein, Stadt und Fans eine kollektive Identität geschmiedet, die stärker wirkt als die Widersprüche des modernen Fußballs. Am Weg nach Anfield, dem Stadion ohne Stehplätze aber mit zwei Merchandise-Megastores, säumen zahlreiche, heruntergekommene Pubs den Weg. Hier verfolgen jene Fans, die sich ein Ticket für die Spiele des modernen Liverpool FC nicht mehr leisten können, das Match. An fast allen Eingangstüren klebt ein Bekenntnis: vergilbte, aber gut erhaltene Plakate, die zum Boykott der Sun aufrufen. Das Boulevardblatt hatte den Fans die Schuld für die Tragödie von 1989 gegeben. Liverpool vergisst nicht – und träumt weiter.
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