Vielleicht sind es keine Wunder, sondern der Sieg der besseren Mannschaft. Dennoch gibt es Momente im Fußball, in denen Dinge passieren, die mehr als nur das sind. Vier Beispiele dafür haben wir hier versammelt.
Wer sich am Vormittag des 6. Juni 1993, es war ein Sonntag, auf den Bremer Marktplatz begab, kam um ausgiebigen Körperkontakt nicht herum. „Steht auf, wenn ihr Bremer seid!“, konnte der Mann rechts von mir nicht ernst meinen, denn zum Hinsetzen war schlichtweg kein Platz vorhanden. Ich stand inmitten einer grölenden Menge, die unter grün-weißen Fahnen einen Geruchsteppich aus Schweiß, Bier und Matjesbrötchen entfaltete und sah – nichts. Irgendwann, das hatte man mir erklärt, würde der Deutsche Meister, der in der Nacht aus Stuttgart zurückgekehrt war, den Rathausbalkon betreten. Ich wollte fragen, ob der steinerne Roland nicht umzukippen drohte, wenn so viele Wahnsinnige an seinen Beinen rüttelten, traute mich aber nicht. Heute ging es um Fußball und heute ging es um mehr.
Es war die Saison 1992/93, die auf Werders Finalsieg im Europapokal der Pokalsieger gegen den AS Monaco folgte. Die Saison, in der „König Otto“ Rehhagel im zwölften Jahr seiner Regentschaft an der Weser die Vision einer kontrollierten Offensive in der Bundesliga zur Vollendung brachte. Abwehrchef Rune „Elch“ Bratseth war zu einem der gefragtesten Liberos Europas aufgestiegen, Dieter Eilts hielt verlässlich das Mittelfeld zusammen und Wynton „Kiwi“ Rufer wirbelte im Sturm.
Für einen österreichischen Mittelfeldspieler namens Andreas Herzog hatte Werder in der Sommerpause mit drei Millionen D-Mark, die bis dahin höchste Ablösesumme der Vereinsgeschichte, bezahlt. Die Fans verstanden anfänglich weder diese Entscheidung, die Klubmanager Willi Lemke zu verantworten hatte, noch Herzog selbst, der seine oft unversöhnlichen Haltungen mit ungleich flacher Satzmelodie vortrug. Spätestens am 24. Oktober 1992 aber, als es Herzog und Rufer gemeinsam gelang, auswärts den Tabellenersten Bayern München vorzuführen, waren alle Vorbehalte vergessen. Auch das frühzeitige Europapokal-Aus Werders gegen Sparta Prag tat dem neuen Selbstbewusstsein keinen ernsthaften Abbruch.
Dem internationalen Fußball brachte ich damals wenig Verständnis entgegen; interessant waren stattdessen diejenigen Gegner, deren Anreise man mit dem Finger auf einer Seite des Diercke-Weltatlas nachvollziehen konnte. Die Werder-Fahne, die ich mir zum siebten Geburtstag gewünscht hatte, ragte, wenn ich sie abstellte, einige Zentimeter über meinen Mittelscheitel hinaus. Schließlich war der Wachstumsschub, den sich Kinderarzt und Mutter angesichts der Innenverteidiger-Statur des Vaters erwarteten, ausgeblieben. Besagtem Vater war es in dieser Saison sogar wiederholt gelungen, mich für eine Stadion-Freikarte für Kleinkinder zu empfehlen. „Wenn dich jemand nach deinem Alter fragt“, hatte er mich zu Beginn auf dem Weg zur Ticketkasse instruiert, „sagst du, du bist fünf.“
Triumph der Fischköppe
Dass ich in Wahrheit nur vier Tage jünger war als Werders ausgeprägtes Stuttgart-Trauma, eine Auswärts-Niederlage im April 1986, derentwegen die Meisterschaft knapp an die Bayern verloren gegangen war, kratzte mich wenig. Ältere Werder-Fans kratzte es mehr. Von Beginn der Saison 1992/93 an hatten die Münchner die Tabellenspitze ohne Unterbrechung für sich beansprucht, erst am vorletzten Spieltag zogen die Bremer mit einem 5:0-Heimsieg gegen den HSV an ihnen vorbei. Bei Punktgleichheit stand Werder nun mit einem einzigen Tor Vorsprung auf Platz 1. Während die Bayern am letzten Spieltag Gelsenkirchen ansteuerten, fuhr der Werder-Mannschaftsbus über die A7 nach Stuttgart.
Am 5. Juni 1993 netzte Bernd „Hobschi“ Hobsch in der 74. Spielminute im Neckarstadion zum 3:0 für Werder Bremen ein. „Schade, Bayern, alles ist vorbei!“, sangen 8.000 mitgereiste Fans und steckten sich dazu Wunderkerzen an. Den ewigen Konkurrenten aus München schickte derweil das Gelsenkirchener Heimpublikum beim 3:3-Endstand mit „Werder, Werder!“-Rufen vom Platz. Ausgerechnet Christoph Daum, damaliger Trainer Stuttgarts, hatte zu Beginn der Saison als einziger der Experten, die im neuen Fernsehformat „ran“ befragt worden waren, auf eine Meisterschaft Werders getippt.
Meinem siebenjährigen Ich, sozialisiert in der norddeutschen Tiefebene, waren die Unkenrufe der Bundesliga-Konkurrenz ohnehin unverständlich. Wenn nur Dieter Eilts und Andi Herzog fit wären, das hatte ich schnell gelernt, könnte dieser Mannschaft alles gelingen. Als man mir mitteilte, dass die ersten Spieler auf dem Rathausbalkon erschienen waren, riss ich meine Werder-Fahne in die Höhe. „Was ist grün und stinkt nach Fisch?“ war Deutscher Meister 1993. (Mareike Boysen)
Borussia Dortmund – Schalke 04 3:3 (0:2)
13. September 2008
4. Runde, Deutsche Bundesliga
Einer meiner besten Freunde ist Schalker. Sowas ist nicht schön, kommt aber vor. Meistens macht das nichts, das Derby strapaziert unsere Freundschaft aber in regelmäßigen Abständen. Die Wiedergeburt des BVB im 156. Revierderby erleben wir dennoch Seite an Seite: Zum Geburtstag hatten wir unseren Schalker Freund mit Karten für das Spiel im Westfalenstadion überrascht. Die Bedingung: Wir fuhren mit „Ballermann 09“, einem bierseligen BVB-Fanclub aus dem Nachbardorf. Bei der Hinfahrt hielt sich der Blaue bedeckt, während die Ballermänner und -frauen im Bus das ganze Arsenal leicht angestaubter Anti-GE-Folklore auspackten: Die Worte „Gelsenkirchen“ oder „Schalke“ nahm niemand in den Mund, „Herne West“ war das höchste der Gefühle. Vor jeder Raststätte, die wir ansteuerten, riefen friedliebende Familienmenschen das große „Schalkerklatschen“ aus.
Unsere Karten hatten wir für den „Langnese Familienblock“, der Schalker direkt neben Ballermann 09-Legende Diddi Müller. Auf dem Platz stand eine Dortmunder Mannschaft im Umbruch: Erst zwei Monate zuvor war Jürgen Klopp Trainer eines krisengebeutelten BVB geworden. Er kam aus Mainz und war der aufstrebende, junge Trainer. Schon vor dem Derby hatte er Hoffnungen auf ein Ende der Krise geweckt. Sie knüpften sich an ihn und junge Spieler wie Neven Subotic und Mats Hummels. Noch immer aber dominierten Namen wie Tamas Hajnal, Antonio Rukavina oder Diego-Fernando Klimowizcs, die die ganze Tristesse des BVBs der Nuller-Jahre versprühten.
frei eskaliert
Kevin Kuranyi war das allerdings völlig egal. Nach 20 starken Minuten von uns schindete er einen Elfmeter. Herne-West ging in Führung. Noch vor der Pause erhöhten sie durch Rafinha auf 2:0. Unser Freund verlor jegliche Contenance und gab sich unmissverständlich als Schalker zu erkennen. Diddi Müller wollte davon nichts wissen: „Ey Schalker, dat is noch nich‘ gegessen hier. Zweite Halbzeit spieln wir auffe Süd, dat drehen wir noch“. Keine zehn Minuten nach der Halbzeitpause stand es 0:3. Mitten in meine Agonie, in der ich alles und Jürgen Klopp hinterfragte, köpfte der zuvor glücklose Subotic das 1:3. Keine fünf Minuten später erzielte Alex Frei das 2:3. Das Westfalenstadion eskalierte, wir wollten den Ausgleich herbeischreien. Der Lärm machte den Schalkern zu schaffen: Innerhalb von drei Minuten sahen die Spieler Fabian Ernst und Christian Pander rot. Der Schalker, unser Freund, hoffte nur noch auf den Abpfiff. Er wurde enttäuscht. In der 89. Minute spielte Mladen Krstajic Hand, wir bekamen ein Elfmeter. Frei drosch ihn, ohne die geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, hoch und mittig in die Maschen. Der kurz darauf folgende Abpfiff ging im schwarz-gelben Jubeltaumel unter. Auf dem Papier besiegelte er nur einen schnöden Punktgewinn. Tatsächlich aber erlebten wir die Geburtsstunde des BVB der Klopp-Ära, geprägt von spektakulärem Fußball und Wahnsinn, der zur Norm wurde. Auf unseren Schalker Freund hingegen wartete eine nachhaltig traumatisierende Rückfahrt im Bus von Ballermann 09. (Andre Schmidt)
SC Wiener Neustadt - SK Sturm Graz 1:2 (0:0)
22. Mai 2011
35. Runde, Bundesliga
Soweit ich mich erinnere, sind wir seither nie mehr gemeinsam zu einem Auswärtsmatch gefahren. Väter, Söhne, Onkel und Neffen, alte und junge Freunde zusammen. Sturm hatte sich völlig überraschend eine Chance erspielt. Mit einem Sieg gegen Wiener Neustadt würden sie in der vorletzten Meisterschaftsrunde der Saison 2010/2011 die Weichen Richtung dritten Meistertitel stellen können. Ein Untentschieden wäre zu wenig gewesen.
Da standen wir nun im Kreis auf dem weichen Asphalt der Autobahnraststätte Loipersdorf im Burgenland und schworen uns ein. Die Sonne brannte unsere weiße Haut rot statt schwarz. Alle anderen tranken Bier. Ich war der Fahrer. Wir werden es schaffen, dachte ich mir. Wieder hinein ins Auto. Über den Wechsel. Hinunter zum Militärflughafen mit angeschlossener Stadt. Stadtplan und Navigationssystem waren nicht notwendig. Alle Menschen in Wiener Neustadt trugen schwarz und weiß und gingen Richtung Fußballplatz.
Handball
Wir zwängten uns auf eine provisorische Stahlrohrtribüne. Die Sonne brannte auch in der Tiefebene auf uns herab. Es ging los und Roman Kienast schoss fast ein Tor. Danach ließ Wiener Neustadt bis zum Pausenpfiff nichts mehr zu. Wir hatten uns das anders vorgestellt. Nach der Pause ignoriert Wiener Neustadt weiter beharrlich unsere Ambitionen auf den Meistertitel und machte Druck. Christian Thonhofer traf in dieser Phase die Querlatte, und wir hielten den Atem an. Fast gleichzeitig informierte der Stadionsprecher über die Führung von RB Salzburg. Plötzlich waren wir Zweiter.
Erst jetzt begann Sturm, Kraft zu schöpfen. Florian Kainz schoss das 1:0. Gerade als die Fans wieder vom Meistertitel zu singen begannen, foulte Sturm-Verteidiger Thomas Burgstaller Thomas Helly an der Strafraumgrenze. Eine diskutable Entscheidung des Schiedsrichters Manuel Schüttengruber. Alexander Gründwald war das egal. Er zirkelte seinen Freistoß ins Tor. Die Uhr zeigte Minute 75. Es stand 1:1. Für zehn Minuten waren wir Fans schweißgebadet. Heiß war uns schon den ganzen Tag, richtig unangenehm wurde die Hitze erst jetzt. Bis zu dem Moment als Sturm-Leihspieler Edin Salkic im Dress von Wiener Neustadt einen Flankenball unbedrängt im Strafraum mit der Hand wegschlug. Samir Muratovic legte sich den Ball zum Elfmeter für Sturm auf und traf.
Wir jubelten. Der Rest von Österreichs Fans vermutete Wettbetrug. Wir vermuteten, dass der Rest von Österreichs Fußballfans Wettbetrug vermutete. Als wir im Auto nach Graz saßen, war uns ein Endspiel gegen Wacker Innsbruck ebenso sicher, wie die Erinnerung an eine Auswärtsfahrt von der die Väter den Kindern, die Onkel den Neffen und die alten den jungen Freunden erzählen würden. Drei Tage später wurden wir Meister. (Martin Schreiner)
Union St. Florian – FC Blau-Weiß Linz 2:3 (0:1)
28. Mai 2011
29. Spieltag, Regionalliga Mitte
Es muss der erste Tag in diesem Jahr gewesen sein, an dem geregnet hat. Denn alle anderen Erinnerungen an den Frühling 2011 verbinde ich mit Schweiß und einer fast unangenehmen Hitze. Wir ertrugen sie fluchend, als wir bei den LASK-Amateuren nicht über ein 0:0 hinauskamen und danach einmal mehr die Aufstiegsträume begruben. Sie heizte unsere Eurphorie an, als wir die nächsten drei Partien gewannen und uns der Liveticker auf auf der Couch klebend verriet, dass dem Aufstiegskonkurrenten GAK die Kraft ausging. Plötzlich konnten wir uns eigener Kraft für die Relegation qualifizieren – Erster waren die Amateure des LASK, aber die durften nicht aufsteigen. Seit diesem beschissenen Tag im Juni 2003 standen unsere Chancen auf die Rückkehr in den Profifußball nicht mehr so gut.
Anders als damals regnete es. Als wir nach St. Florian, nicht mehr als ein Vorort von Linz, fahren, begann es zu schütten. Es war nicht einmal sonderlich warm, vor allem für den vorletzten Spieltag Ende Mai. Dennoch: Gut 700 Blau-Weiße waren da. Es dauerte nur eine Stunde, bis von unserem Träumen nur mehr ein Funken übrig war. Die Union spielte mit und ging mit 1:0 in die Pause. Danach traf Lukas Wurmlinger mit einem Halbvolley aus 20 Metern genau ins Kreuzeck. Ein Tor, das Regionalligakickern eigentlich nie gelingt. Jeder einzelne Regentropfen wog plötzlich einen halben Kilo, es schien ein beschissener Tag im Frühsommer 2011 zu werden.
Warum auch immer verloren wir die Hoffnung nicht ganz – zumindest nicht alle von uns. Mein notorisch-optimistischer Freund Jahn sagte mir unentwegt, ich solle nicht so bedrückt schauen, sondern endlich wieder richtig mitsingen. Die Spieler verloren, so wie Jahn, den Glauben nicht. Wir drückten auf den Anschlusstreffer, am Anfang noch vergebens. Doch eine Viertelstunde vor Schluss verkürzte Linksaußen Boris Arapovic auf 1:2. Michael Miksits, im Winter gekommen und vor allem als Chancentod bekannt, entschied sich, nie wieder in seinem Leben ein Kopfballduell zu verlieren. Nach einer Ecke glich er nur wenige Minuten nach dem Anschlusstreffer aus. Irgendwann in dieser Druckphase – ich glaube, es war nach dem 2:2 – kratzte Kapitän Tino Wawra den Ball von der Linie und hielt uns im Spiel. Es war am Sportplatz der Union St. Florian wohl nie wieder so laut wie in diesen Minuten. Wir sangen diesen einen Chant („Auf geht‘s blau-weiße Jungs, auf geht’s blaue weiße Jungs, kämpft und siegt für uns“), den wir danach bei jedem Spiel anstimmen würden, um uns wieder und wieder an diesen Abend in St. Florian zu erinnern. Diese Durchschlagskraft entwickelte er nur damals.
Drei Minuten vor Schluss war es dann soweit: Ernst-Marco Koll drosch den Ball nach einem Corner aus kurzer Distanz ins Netz und drehte das Spiel. Der Held Koll lief dem Block entgegen, und dieser ihm. Für kurze Zeit war der Großteil unseres Blocks am Feld. Fünf Minuten später pfiff der Schiedsrichter ab. Wir hatten es weiter selbst in der Hand. Am 11. Juni fixierten wir in Wattens den Aufstieg – es war der zweite Tag in diesem Jahr, an dem es regnete. (Moritz Ablinger)