Hapoel Katamon Jerusalem will nicht nur erfolgreich Fußball spielen, der Verein strebt sozialen Wandel an. Um diesen inmitten ethnischer und religiöser Konflikte zu erreichen, hat er ein einfaches Rezept: Fußball für alle.
Nach einer Niederlage ist es schwer, meinen besten Freunden in die Augen zu schauen“, sagt Daphne Goldschmidt. „Ich fühle mich für ihren Schmerz verantwortlich.“ Ihr Handy hat die 33-Jährige am Freitagabend ausgeschaltet. Der Grund dafür ist nicht der Beginn des Sabbats, sondern die 0:3-Heimniederlage von Hapoel Katamon Jerusalem gegen den Tabellenletzten der zweiten Liga. Goldschmidt ist ehrenamtliche Vorsitzende des Vereins, sie empfängt den ballesterer am Abend nach der Niederlage des Aufstiegsanwärters in ihrer Wohnung zum Interview. „Ich bin ein Fan, die das Privileg hat, ihren Verein zu leiten“, sagt sie. Denn Hapoel Katamon ist der erste israelische Verein im Besitz seiner Anhänger. Der Klub wurde 2007 von Hapoel-Jerusalem-Fans gegründet, die sich von ihrem Klub abgewandt hatten.
Sozialistische Jahre
Einst war Hapoel der größte und populärste Verein der Stadt. 1957 stieg er in die höchste israelische Liga auf, die er aber nie gewinnen konnte. Der größte Erfolg der Vereinsgeschichte war der Cupsieg 1973. Die Jerusalemer Filiale stand wie die anderen Hapoel-Klubs damals im Besitz der sozialistischen Histadrut, dem Dachverband der Gewerkschaften. Durch den Aufstieg der Rechten verlor dieser ab Ende der 1970er Jahre jedoch an Einfluss und finanziellen Mitteln. Daher verkaufte die Histadrut das Hapoel-Shalom-Stadion. Als es 1982 abgerissen wurde, musste Hapoel Jerusalem den Stadtteil Katamon verlassen. Von da an spielte der Klub zunächst im YMCA-Stadion, dann im Teddy-Stadion – gemeinsam mit Beitar, dem Klub der rechten, nationalistischen Beitar-Bewegung.
Auf den politischen Machtwechsel folgte ein sportlicher, Hapoel büßte den Status als beliebtester Verein der Stadt allmählich ein. Das ist nun der Lokalrivale Beitar, der in der Gunst der Likud-Partei steht, bis heute keine Araber einsetzt und dessen Fans sich stolz als rassistischste Kurve des Landes feiern. Einem Ruf, dem sie immer wieder gerecht werden, zum Beispiel bei den massiven Protesten gegen die Verpflichtung von zwei tschetschenischen Spielern 2013. Oder kurz vor dem Holocaustgedenktag 2013, als die dominante Fangruppe „La Familia“ ein Banner mit der Aufschrift „Beitar – ewig rein“ präsentierte. Oder bei einem der zahlreichen Spiele, bei denen sie einen ihrer bekanntesten Schlachtrufe intonierten: „Tod den Arabern!“
Hapoel Jerusalem konnte hingegen auf eine ganz andere Tradition zurückblicken. Es war der erste israelische Verein, in dem ein Araber in der Startformation stand, Fans aus West- und Ostjerusalem besuchten die Spiele. „Als ich das erste Mal zu einem Hapoel-Spiel gegangen bin, habe ich Menschen aus verschiedensten Stadtteilen gesehen: Palästinenser und Juden, Arme und Reiche“, sagt Eitan Perry, der selbst aus einem Mittelschichtsviertel kommt. Zum Fußball ging er gegen den Willen seines Vaters, der dort nur eine chauvinistische und gewaltvolle Atmosphäre erkennen wollte. Den heute 36-jährigen zog es dennoch auf den Fußballplatz, speziell nachdem er in einem Schulprojekt herausgefunden hatte, dass sein Urgroßvater nach der Immigration aus Polen in den 1930er Jahren als Tormann bei Hapoel Jerusalem gespielt hatte.
Rettung einer Gemeinschaft
Doch ab Mitte der 1990er Jahre ging es mit Hapoel rapide bergab. Die Histadrut hatte den Klub an Yossi Sassi verkauft, der Geschäftsmann führte ihn an den Abgrund. Der Schuldenberg wuchs, und Hapoel stieg innerhalb von vier Jahren zum zweiten Mal in die dritte Liga ab. Statt mehrerer tausend kamen 2007 manchmal nicht mehr als 50 Fans ins 32.000 Plätze fassende Teddy-Stadion. Inmitten der sportlichen und finanziellen Tristesse fasste eine Gruppe von Fans den Entschluss, etwas zu unternehmen. Das erste Treffen zur Rettung des Klubs fand in Perrys Wohnung statt, es endete mit dem Start einer Crowdfunding-Kampagne. Die Fans wollten eine Million Schekel – umgerechnet rund 250.000 Euro – sammeln, um den verschuldeten Verein zu übernehmen. Nach wenigen Wochen hatten sie 500.000 Schekel aufgestellt und unterbreitete dem Besitzer ein Kaufangebot. Sassi lehnte ab.
Also entschieden sich die Fans für einen Plan B. Zunächst gingen sie eine Kooperation mit dem Viertligisten Hapoel Mevaseret Zion ein. Es folgten gescheiterte Aufstiegsversuche und weitere abgelehnte Übernahmeangebote für den Stammverein, also beschlossen die Fans, als Hapoel Katamon Jerusalem von ganz unten neu zu beginnen. 2009 startete der Klub in der fünften Liga. Von dort hat er sich 2013 bis in die zweite Liga hochgearbeitet. Mittlerweile hat der basisdemokratisch geführte Verein fast 900 Mitglieder, die gleichzeitig die Besitzer sind. Sie wählen jährlich aus ihren Reihen vier Personen in den siebenköpfigen Vorstand, dem außerdem drei strategische Partner angehören. Diese Unternehmer müssen die Ziele der Basis teilen und in den Verein investieren. Einer dieser Unterstützer ist Lawrence Tanenbaum, dem in Kanada das NHL-Team Maple Leafs, das NBA-Team Raptors und das MLS-Team Toronto FC gehören.
Derzeit hat der Verein über 60 bezahlte Angestellte, dennoch lebt er auch zwölf Jahre nach der Gründung immer noch vom ehrenamtlichen Engagement. Ob im Merchandising, in der Öffentlichkeitsarbeit oder im sportlichen Bereich: Wer sich einbringen will, kann mitarbeiten. Einer von denen, die das tun, ist Orin Munk. Der Experte für Datenanalyse sitzt Anfang Februar in seinem Büro am Laptop, während die Kampfmannschaft gerade das Abschlusstraining absolviert. Er hat sein Wissen dem Verein angeboten und eine zweiköpfige Scoutingabteilung aufgebaut. „Würde ich nicht so viel Zeit für Katamon aufwenden, hätte ich wahrscheinlich schon in Mathematik promoviert“, sagt Munk. „Man muss eben Prioritäten setzen.“
Vielfältiger Nachwuchs
Ihr Team als Nachfolger des mittlerweile kurz vor dem Abstieg in die vierte Liga stehenden Hapoel Jerusalem in den Profifußball zu bringen, war jedoch nie das einzige Ziel der Fans. „Hapoel Katamon sollte nicht nur Fußball sein, sondern auch einen sozialen Wandel in Jerusalem bewirken“, sagt Perry über den Gründungsgedanken des Klubs. Ganz ähnlich klingt das beim Kapitän der Kampfmannschaft, Yogev Lerman. „Hapoel Katamon ist mehr als nur ein Fußballklub“, sagt der 27-jährige Verteidiger und betont die große Verantwortung, die man als Spieler dieses Klubs hat. Damit meint er nicht nur die Leistung auf dem Platz. „Der Verein verbindet viele Menschen aus unterschiedlichen Communitys.“
Das Vorzeigeprojekt des Vereins ist die Neighborhoods League für Schüler. Die Teams trainieren zweimal pro Woche, die Spieler erhalten Unterstützung bei ihren Hausübungen und zusätzliche Bildungsangebote. Über 700 Kinder zwischen zehn und 14 Jahren spielen in der Liga. Einmal pro Monat kommen die Teams für ein Turnier zusammen. Eine andere Schülerliga gibt es in Jerusalem nicht. Aber nicht nur deswegen ist die Initiative einzigartig, sie bringt auch Kinder aus unterschiedlichen Schichten aus sämtlichen Stadtteilen zusammen – Juden und Araber, Religiöse und Säkulare, Kinder aus wohlhabenden und ärmeren Gegenden. Insgesamt partizipieren 1.800 Kinder und Jugendliche in den unterschiedlichen Projekten, die Katamon betreibt. Das sorgt auch dafür, dass der Anteil von jungen Menschen bei den Spielen der ersten Mannschaft sehr hoch ist: 50 Prozent der Stadionbesucher sind unter 18.
Inspirierende Ente
Besonderer Wert wird in sämtlichen Projekten darauf gelegt, dass Burschen und Mädchen spielen. „Ich beschäftige mich schon mein ganzes Leben mit Fußball, aber erst vor zehn Jahren bin ich draufgekommen, dass es mir die Gesellschaft unmöglich gemacht hat, selbst zu spielen“, sagt die Vereinsvorsitzende Daphne Goldschmidt. Heute betreibt Hapoel Katamon als einziger Verein im Großraum Jerusalem ein eigenes Förderprogramm für Fußball spielende Frauen. Die Hälfte des U18-Teams spielt mittlerweile auch im Nationalteam. Bis zur Saison 2020/21 soll es auch ein Frauenteam geben. Dafür fehlt es derzeit jedoch noch an der Unterstützung des Verbands und an Gegnerinnen, denn kein Verein der ersten Liga hat ein Frauenteam. Neben diesem Problem gibt es noch ein weiteres: Es mangelt an Fußballplätzen. Die infrastrukturellen Schwierigkeiten verschärfen sich durch den wachsenden Einfluss religiöser Gruppen: Am Sabbat dürfen die wenigen Sportplätze nicht bespielt werden.
Dieser ist mittlerweile vorbei, und Daphne Goldschmidt hat ihr Handy längst wieder eingeschaltet. „Ich habe seit gestern Abend 81 Nachrichten erhalten“, sagt sie. Kurz darauf läutet es – eine Telefonkonferenz mit den anderen Vorstandsmitgliedern steht an, die Rückrunde läuft nicht wie gewünscht. Obwohl mit dem ehemaligen Teamspieler Eran Levi der bislang teuerste Neuzugang verpflichtet wurde, entfernt sich Katamon allmählich von den Aufstiegsrängen. Doch noch besteht Hoffnung, „Immer optimistisch“ ist schließlich der Leitspruch der Hapoel-Fans. Oft findet sich der Spruch auf Schals, Aufklebern und T-Shirts – flankiert von einer Ente. Bei ihrer Darstellung bedienten sich die Fans bei einem Charakter des 2005 verstorbenen Cartoonisten und Hapoel-Fans Dudu Geva – einer glücklosen Ente, die ihren Optimismus nie verlor. „Wir sind Optimisten“, sagt Goldschmidt. „Katamon ist der Boden, um unsere Träume Wirklichkeit werden zu lassen.“
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