„Macht mich nicht zum Idol. Ich habe mein Leistungspotenzial noch nicht voll ausgeschöpft“, schrieb Andrij Schewtschenko 2004 auf seiner Website. Zu diesem Zeitpunkt war er 27 Jahre alt und bereits seit fünf Jahren als Stürmer für den AC Milan aktiv. 1999 kam er von seinem Stammverein Dynamo Kiew und gewann in Italien von Meisterschaft über Cup bis zur Champions League alles, was es zu gewinnen gibt. Als er 2012 seine Karriere beendete, brachte er es auf 111 Einsätze und 48 Tore im Nationalteam – damit ist er Rekordtorschütze seines Landes. Sein Leistungspotenzial schien nun wirklich ausgeschöpft. Schewtschenko erklärte damals: „Meine Zukunft liegt nicht länger im Fußballsport.“ Kurzfristig strebte er eine politische Karriere an und kandidierte für die sozialdemokratische Kleinpartei „Ukraine – Vorwärts!“ bei den Parlamentswahlen im Herbst 2012. Allerdings erfolglos.
Der ideale ArbeiterEine aktive Rolle im Fußballgeschehen nahm der talentierte Hobbygolfer – bei den ukrainischen Meisterschaften 2011 wurde er Zweiter – trotz der Bekundungen ab 2016 erneut ein. Ein halbes Jahr vor der EM holte ihn der damalige Teamchef Mychajlo Fomenko als Co-Trainer in den Betreuerstab. Nach dem Aus in der Vorrunde in Frankreich wurde Fomenkos Vertrag nicht verlängert und Schewtschenko befördert. Mittlerweile ist er der längstdienende Teamchef seines Landes. Dabei fiel der Anfang schwer. Bei der ersten großen Aufgabe, der Qualifikation für die WM 2018, musste die Ukraine den späteren Vizeweltmeistern aus Kroatien und den Isländern den Vortritt lassen. Schewtschenko probierte in den Spielen unterschiedliche Aufstellungen aus – von einem sehr offensiven 4-3-3 über ein klassisches 4-4-2 bis zu einem 4-1-4-1.
Eine Qualifikation später in einer Gruppe mit dem amtierenden Europameister Portugal und Serbien zahlte sich das Experimentieren aus. Die Ukraine qualifizierte sich ungeschlagen als Gruppenerster, spielte dabei meist in einem 4-3-3 und ließ in den acht Spielen nur vier Gegentore zu. Hinter Belgien und gemeinsam mit Italien war das der zweitbeste Wert in der EM-Qualifikation. Den Kern der Abwehr bilden Schachtar Donezks Innenverteidiger Mykola Matwijenko und Serhij Krywzow, sie sind die eingespielten Erfolgsgaranten für eine stabile Abwehr. Im zentralen Mittelfeld nimmt Oleksandr Sintschenko von Manchester City eine entscheidende Rolle ein. In der Premier League wird er zumeist als linker Verteidiger aufgestellt, bei Schewtschenko rückt er etwas weiter nach vorne.
Mit Ruslan Malinowskyj von Atalanta Bergamo hat der Trainer einen Topspieler im offensiven Mittelfeld zur Verfügung. Vier Vorlagen und drei Tore in der Qualifikation sprechen für sich. Und auch Mittelstürmer Roman Jaremtschuk von KAA Gent konnte mit drei Toren und zwei Vorlagen überzeugen. Ohne die Legionäre hätte das Nationalteam deutlich weniger Qualität, sagt der ukrainische Journalist und Fanaktivist Yurij Konkewytsch im Gespräch mit dem ballesterer. „Sintschenko und Malinowskyj spielen bei starken Klubs, durch sie ist das Angriffsspiel viel besser. Sie verkörpern die offensive Spielidee von Schewtschenko. Und Jaremtschuk ist der ideale Stürmer im Team. Er ist ein Arbeiter und schließt die Angriffe perfekt ab.“
Auf Hoch kommt Tief
Der überschwänglichen Qualifikationsfreude im Jahr 2019 sollte die Ernüchterung folgen. Nach zehn Monaten Länderspielpause lief es im Herbst 2020 nicht mehr rund. In der Nations League wurden einmal die Schweiz und Spanien knapp besiegt, weitere Punkte holte die Ukraine jedoch nicht. Das erste der beiden Spiele gegen Spanien verlor das Team 0:4, gegen Deutschland gab es zwei Niederlagen. Das Rückspiel gegen die Schweiz fiel schließlich der Pandemie zum Opfer. Die Ukrainer konnten nach mehreren Infektionen in Luzern nicht antreten und verloren das Match am grünen Tisch 0:3. Die Ukraine stieg aus der Liga A ab. „Dem Abschneiden in der Nations League würde ich nicht zu viel Beachtung schenken“, sagt Konkewytsch. „Zum einen ist die Mannschaft immer wieder vom Coronavirus heimgesucht worden, zum anderen trifft man in der A-Liga eben auf lauter Topmannschaften.“ Ein weiterer Rückschlag war die 1:7-Testspielniederlage gegen Frankreich im Oktober. Auch hier beeinträchtigte das Virus die Leistung. Nach zwei positiven Tests bei Spielern von Schachtar Donezk, begaben sich alle acht Kaderspieler des Klubs in Quarantäne. Schewtschenko setzte daher im Stade de France auf viele unerfahrene Spieler, und das Debakel nahm seinen Lauf.
In den Spielen der WM-Qualifikation im März gab es für die Ukraine ein schnelles und deutlich erfolgreicheres Wiedersehen mit Frankreich. 1:1 hieß es diesmal in Saint-Denis. Das Ergebnis, das sich gegen den Weltmeister gut ausnahm, wiederholte sich allerdings in den folgenden Heimspielen gegen Finnland und Kasachstan. „Individuelle Fehler in der Defensive haben dazu geführt, dass wir nur Remis gespielt haben“, sagt Konkewytsch. „Eine weitere Schwäche im Spiel gegen Kasachstan war die Chancenauswertung. Das Spiel hätte man haushoch gewinnen müssen.“ 28:5 Torschüsse verzeichnet die Statistik zugunsten der Ukrainer.
In der Offensive kam in den Frühjahrsspielen Junior Moraes von Schachtar Donezk zum Einsatz, entweder als alleinige Spitze oder neben Jaremtschuk. Defensiv setzte der Teamchef auf eine Dreierkette, hier sieht Konkewytsch auch die größte Schwäche. „Schewtschenko ist noch immer auf der Suche nach der optimalen Zusammenstellung“, sagt er. Der Aufstieg ins Achtelfinale gilt als Mindestziel. Doch die ukrainischen Fans sind beim Ausschöpfen von Potenzialen in jüngster Vergangenheit bereits einmal enttäuscht worden. „Vor der EM 2016 haben viele geglaubt, dass wir eine Goldene Generation haben und alles in Grund und Boden spielen werden“, sagt Konkewytsch. „Am Ende war es ein ziemlich peinlicher Auftritt in Frankreich.“