Rund vier Wochen sind es bei Drucklegung dieser Ausgabe noch bis zum Eröffnungsspiel der Europameisterschaft. Wenn Italien am 11. Juni um 21 Uhr gegen die Türkei antritt, werden im Olimpico voraussichtlich 16.000 Zuschauer dabei sein. Als die Roma Anfang Mai am selben Ort im Halbfinale der Europa League gegen Manchester United um den Aufstieg kämpfte, musste sie das ohne ihre Fans tun. Ebenso wie Ajax und der FC Bayern ihre Meistertitel in den EM-Spielorten Amsterdam und München vor leeren Rängen feierten.
Dass für das größte Sportereignis Europas plötzlich geht, was lange unmöglich war, ist umstritten. Wieso garantieren Städte und Regierungen der UEFA Wochen im Voraus eine Auslastung der Stadien von 25, 50 oder gar 100 Prozent, während Ausgangsbeschränkungen herrschen, das Personal auf Intensivstationen am Limit ist und Kinder nicht in die Schule gehen dürfen – vom Fußballspielen ganz zu schweigen? Das ist für viele, egal ob sie dem Fußball nahestehen oder nicht, schwer zu verstehen. Für manche Fans von Klubmannschaften, denen die EM keine Herzensangelegenheit ist und die seit mehr als einem Jahr auf ihren Stadionbesuch verzichten müssen, ist es schlicht Doppelmoral.
All das ist nachvollziehbar, der Ärger verständlich. Und vielleicht ist er umso größer, weil wir alle schon 15 Monate voller Ärger und Ängste hinter uns haben. Und voller Ambivalenzen, die in dieser Pandemiezeit in jedem Detail stecken: Wenn die Coronaregeln das Leben so sehr einschränken, man sich aber dennoch daran hält. Wenn die Videokonferenzen nerven, aber immer noch besser sind, als einander gar nicht zu sehen. Wenn nicht zu verstehen ist, warum jemand in dem einen Bundesland einen Impftermin kriegt, in dem anderen aber nicht. All diese Widersprüche belasten Familien, Freundeskreise und Firmen.
Und die EM fügt dem ihre eigenen Ambivalenzen hinzu: Ein für noch mehr Geld aufgeblasenes Teilnehmerfeld, ein denkbar ungeeignetes Format, Packelei mit autoritären Regimen – was soll das? Doch es wäre keine Ambivalenz, wenn es nicht auch die andere Seite gäbe. Denn für viele Fans im Olimpico wird der 11. Juni ein Tag der Freude sein, auf den sie lange hingefiebert haben. Sie können ihre Mannschaft bejubeln, ihr Trikot tragen, vielleicht singen, vielleicht schimpfen und spätabends mit erfüllten Herzen nach Hause gehen.
Vielleicht ist das überhaupt die beste Art, dieser EM zu begegnen, die aus vielen Gründen anders ist als jede vor ihr: Man freut sich mit denen, die Freude daran haben. So lässt sich dem kommerzgetriebenen Event ein Gewinn abringen, der nicht in die Bilanzen der UEFA fließt. Weil es für alle ein Schritt nach vorn ist. Wenn sich die finnischen Fans bei ihrem ersten großen Turnier in Sankt Petersburg über geöffnete Lokale und 30.000 Menschen im Stadion freuen, heißt das hoffentlich auch: Wir haben das Schlimmste hinter uns.