„Die Hertha wird unterschätzt. Der Support in der Ostkurve ist einer der besten der Bundesliga.“
In weiter Ferne so nah
Es ist nur ein Freundschaftsspiel, aber selten hat die Bezeichnung so gut gepasst wie an diesem feuchtkalten Jännertag 1990. Das Berliner Olympiastadion ist mit über 50.000 Menschen gefüllt. Zu den Zweitligaspielen von Hertha BSC verlieren sich normalerweise nicht mehr als 9.000 Besucher in der weiten, zugigen Betonschüssel. Aber was ist schon normal in diesen Monaten? An diesem Tag treffen Hertha BSC und der 1. FC Union Berlin zum ersten Mal aufeinander. Fans beider Vereine liegen sich schunkelnd in den Armen. „Eisern Berlin!“, schallt es von den Rängen, rot-weiße und blau-weiße Schals werden in die Höhe gehalten, ein Spruchband mit der Aufschrift „Spielt – spielt, Hertha und Union, ganz Deutschland feiert schon“ ist zu sehen.
Zu Mauerzeiten hatte sich eine Freundschaft zwischen Anhängern beider Klubs entwickelt. Ab den 1970er Jahren begannen Hertha-Fans, Spiele von Union im Stadion an der Alten Försterei in Köpenick zu besuchen. Die Unioner wiederum begleiteten Hertha BSC zu Europacupspielen in der DDR und im sozialistischen Ausland. Gemeinsam skandierten sie: „Hertha und Union – eine Nation!“
Freunde hinter Stacheldraht
Welchen Zuspruch die Hertha im Osten der Stadt trotz der Teilung genoss, zeigte sich bereits im November 1989. Zwei Tage nach der Grenzöffnung nutzten zehntausende Ost-Berliner die erste Gelegenheit, um den West-Berliner Klub endlich – oder endlich wieder – spielen zu sehen. Da war egal, dass es sich lediglich um ein Zweitligamatch gegen Wattenscheid 09 handelte. Für die Fans aus dem Osten waren mehr als 10.000 Freikarten hinterlegt worden. Vor dem Olympiastadion stauten sich Trabis und Wartburgs, die West-Berliner „Abendschau“ interviewte Fans, die strahlten, als hätten sie die eigentliche Mauer erst am Stadioneingang überwunden. Andere kämpften mit den Tränen, weil nun „endlich alles wieder tutti“ war – beim ersten Heimspiel nach 28 Jahren. Im Stadion hing ein roter Banner, auf dem in weißer Schrift geschrieben stand: „Eisern Union grüßt die Freiheit und Hertha BSC“.
Waren sich die Fans zuvor nur auf den Rängen nahegekommen, konnten sie am 27. Jänner 1990 endlich ihre Mannschaften gegeneinander spielen sehen. Die einstigen „Freunde hinter Stacheldraht“ waren vereint. Die Tickets kosteten fünf Mark – Ost- oder West-Währung. Nur kurz wurde die Feierstimmung getrübt, als 200 Fans des DDR-Rekordmeisters BFC Dynamo im Oberrang versuchten, die übrigen 50.000 aufzumischen. „Stasi raus!“, brüllten Unioner und Herthaner ihnen gemeinsam entgegen. Die Bösen sind die anderen, da war man sich einig. Und es sind bekanntlich die Sieger, die die Geschichte schreiben. Das sollten auch die Seriensieger von einst bald zu spüren bekommen. Aber das ist eine andere Geschichte. Das erste Tor an diesem Abend schoss Axel Kruse, ehemaliger Spieler von Hansa Rostock und im Juli 1989 in den Westen geflohen, für die Hertha. Der Gastgeber gewann 2:1, doch auf den Rängen wurden alle Tore von allen gefeiert. Moralisch war es ein 3:0 für die wiedervereinte Stadt.
Es war nur ein Freundschaftsspiel, ein historischer Augenblick, in dem es so aussah, als könne die Berliner Fußballwelt zusammenwachsen. Dabei war es bereits der Anfang vom Ende dieser Fanfreundschaft. Wie eine Fernbeziehung, die dem Alltag nicht standhält und allzu schnell erkaltet. Das zeigte sich schon wenige Monate später. Zum Rückspiel bei Union kamen nur noch 3.800 Zuschauer. „Die Fans im Osten hatten da längst andere Sorgen und die im Westen schon kein Interesse mehr“, sagt Michael Jahn. Er hat schon vor der Wende als Sportredakteur für die im Osten beheimatete Berliner Zeitung gearbeitet. Seit dem Mauerfall berichtet er über Hertha BSC. „Die Fans waren sich nie so nah wie zu Mauerzeiten“, sagt er.
Touristen gegen Klassenkämpfer
Aus Freunden wurden mit der Zeit Rivalen. Viermal trafen die beiden Vereine in den vergangenen Jahren in der zweiten Liga aufeinander, je ein Sieg und zwei Unentschieden stehen zu Buche. Von Freundschaft war dabei nichts mehr zu spüren, es gab „Berlin ist Rot-Weiß“-Schals auf der einen und „Scheiß Union“-Rufe auf der anderen Seite. Nun steht am 2. November, fast auf den Tag genau 30 Jahre nach dem Mauerfall, im Stadion An der Alten Försterei das erste Bundesliga-Derby an. Prominente und Vereinsverantwortliche haben sich im Vorfeld mit Sticheleien und Provokationen hervorgetan, etwa Union-Präsident Dirk Zingler, der das Duell im Interview mit der Berliner Zeitung zum Fußballklassenkampf erklärte. Oder der Popsänger Tim Bendzko, einst Jugendspieler bei Union, der die Hertha in der Welt als Touri-Verein bezeichnete und sich übers Olympiastadion ausließ: „Die Distanz, die ein Zuschauer in diesem Stadion zum Platz hat, ist in etwa so wie die Distanz, die einfach alles in der Stadt zu diesem Verein hat.“ Das wiederum rief Herthas Kommunikationschef Paul Keuter auf den Plan. Er antwortete per Tweet: „Vielleicht konzentrierst Du Dich lieber mal auf’s erwachsen werden, Du Flitzpiepe!?“
„Vor dem Derby wird alles noch mal hochgepusht“, sagt Sportjournalist Jahn. Das Zuschauerpotenzial der Stadt sei jedoch riesig: „Die Alte Försterei quillt ohnehin schon über. Und das Olympiastadion könnte man zum Derby doppelt voll machen.“ Schon bei den Zweitligaduellen waren die Spiele schnell ausverkauft, die halbe Stadt sprach über kaum etwas anderes.
Nobelbar oder Eckkneipe
Das mag verwundern, denn auf den ersten Blick ist Berlin keine klassische Fußballstadt. Manche bezweifeln sogar, dass es überhaupt eine ist. Wie etwa Stefan Hermanns, der seit 2001 für den im Westen ansässigen Tagesspiegel über die Hertha schreibt: „Der Fußball spielt im öffentlichen Leben kaum eine Rolle“, sagt er. Das liege zum einen an der Struktur Berlins. „Jedes Jahr wächst die Stadt um mehr als 30.000 Menschen. Und die, die herziehen, sind ja nicht Fans von Hertha oder Union, sondern bringen ihren Lieblingsverein meist schon mit.“ Die Größe der Stadt, das kulturelle Angebot und die anderen hochklassigen Sportangebote im Handball, Basketball und Eishockey, die in der Regel erfolgreicher als die Fußballklubs sind, täten ihr Übriges.
Zudem habe sich die Hertha mit ihrem Selbstbild lange schwer getan: „Sie wollten am liebsten wie eine schicke Bar sein“, sagt Hermanns. „Aber sie sind eher die alte, verrauchte Eckkneipe.“ Das will der Journalist nicht negativ verstanden wissen. „Die Touristen, die drei Stunden vor dem Berghain anstehen, finden es cool, einmal in einer Eckkneipe abzuhängen.“ Die Hertha habe erst allmählich erkannt, dass die Eckkneipe keine schlechte Variante sei.
Tatsächlich hat Hertha BSC schon einige Marketingstrategien erprobt. Einmal hat sich der Verein in protzigen Kampagnen als Hauptstadtklub gefeiert, dann wieder, wie nach dem Transfer des türkischen Teamspielers Yildiray Bastürk Mitte der 2000er Jahre, versucht, bei der türkischstämmigen Community der Stadt zu punkten oder sich als „Berliner Start-up seit 1892“ zu vermarkten. Seit der vergangenen Saison geht der Klubs zunehmend in die Stadtteile, veranstaltet dort Trainingseinheiten und macht die „Spätis“ vorübergehend zu Fanshops. „Damit kann man die Leute kriegen, und damit hat Hertha auch Erfolg“, sagt Hermanns. Auch das Derby kann helfen. „Ich glaube, bei Hertha freut man sich wirklich über den Aufstieg von Union.“
Grenzgänger
Das Derby in der Bundesliga ist zwar neu, doch gerade Union kann auf eine ganze Reihe von Erstligapartien gegen Berliner Klubs zurückblicken. Das letzte Oberliga-Duell mit Rekordmeister BFC Dynamo bestritt der Klub im März 1989, es ging zu Hause 2:3 verloren. Auch die Hertha unterlag in ihrem letzten Bundesliga-Derby – 0:2 gegen Tennis Borussia Berlin. Das war vor mehr als 42 Jahren, im April 1977. Tennis Borussia aus dem Westen ist längst in den Amateurbereich abgestürzt, doch Union hat in den vergangenen Jahren zur Hertha aufgeschlossen. Und zwar nicht nur sportlich. Während die Hertha seit Jahren bei knapp 37.000 Mitgliedern stagniert, ist die Mitgliederzahl bei Union in den vergangenen 15 Jahren von 3.600 auf mehr als 32.000 gestiegen. Allein in der Aufstiegseuphorie dieses Sommers kamen 9.000 hinzu.
Zum Saisonstart veröffentlichte die Berliner Morgenpost auf ihrer Website eine interaktive Karte, die zeigt, wie sich die Vereinsmitglieder in der Stadt verteilen. Darauf lässt sich noch weitgehend der Verlauf der Berliner Mauer erkennen. Union hat die Oberhand im ehemaligen Osten, Hertha im alten Westen. Im Postleitzahlengebiet, in dem das Olympiastadion liegt, wohnt kein einziges Union-Mitglied. In der Frage Union oder Hertha scheint Berlin heute geteilter denn je.
In dieser Hinsicht müsste man Uwe Rocke als Grenzgänger bezeichnen. Der Union-Fan und Dauerkartenbesitzer stammt aus Ost-Berlin, verließ die DDR aber Mitte der 1980er Jahre. Heute lebt er im Südwesten der Stadt, in Lichterfelde – einem klassischen Hertha-Revier. „Aber sogar hier sind Aufkleber von Union an den Laternen“, sagt er. „Und ich war’s nicht.“ Union sei zwar immer noch stärker im Osten verwurzelt, dennoch erlebt Rocke auch in seiner Nachbarschaft manchmal Szenen wie jene im vergangenen Mai. Am Tag nach dem Aufstieg in der Relegation gegen den VfB Stuttgart fuhr er mit dem Fahrrad in die Arbeit, wie üblich in seiner roten Union-Jacke. Kurz darauf kam ihm eine alte Frau entgegen. „Sie hat nur ein Wort gerufen“, sagt er: „‚Eisern!‘“
Rocke kann sich noch an die Zeiten erinnern, als Unioner und Herthaner gemeinsam sangen: „Wir halten zusammen wie der Wind und das Meer. Die blau-weiße Hertha und der FC Union.“ Rockes Großmutter lebte im Westen und brachte ihm einmal einen Hertha-Schlüsselanhänger mit. „Den wollten mir die Ordner in der Alten Försterei sofort abkaufen.“ Er sieht heute keinen großen Unterschied zwischen beiden Fangruppen: „Ich war vor ein paar Jahren im Olympiastadion. Da sind die gleichen Leute wie bei uns herumgelaufen, nur eben in Blau und Weiß.“ Vor allem auf das Derby im Olympiastadion freue er sich, das sei auch für die Herthaner etwas Besonderes, meint er. „Schließlich ist es neben den Spielen gegen Bayern und Dortmund ein weiteres Heimspiel, das auch einmal ausverkauft ist.“
Blaue Unioner und rote Herthaner
In der Geschichte der beiden Vereine gibt es eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Beide begannen in blau-weißer Spielkleidung, Union übernahm erst nach der Neugründung 1966 die Stadtfarben Berlins und trat fortan in Rot und Weiß an. Beide Klubs stammen aus Arbeitervierteln und hatten einst vor allem unter den Beschäftigten der AEG-Werke viele Anhänger. Die AEG war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer der bedeutendsten Industriekonzerne des Landes und fest in Berlin verankert, sowohl in Oberschöneweide, wo Union zu Hause ist, als auch im „roten“ Wedding, unweit der langjährigen Hertha-Spielstätte „Plumpe“, dem Stadion am Gesundbrunnen.
Nicht zuletzt sind beide Vereine stark geprägt von der „kaputten Geschichte dieser Stadt“, wie es Sportjournalist Jahn nennt. Nach der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 und der Einführung des Vertragsspielerstatus durch den DFB zog der Sportdachverband der sowjetischen Besatzungszone alle Ost-Berliner Mannschaften aus der Stadtliga zurück. Union Oberschöneweide, Unions Vorgängerverein, spielte aus Protest dennoch weiter und übersiedelte vorübergehend nach West-Berlin ins Poststadion. Als Tabellenzweiter qualifizierten sich die Unioner für die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft. Nachdem ihnen die Reise zum Auswärtsspiel nach Hamburg verboten worden war, gingen die Spieler der Kampfmannschaft fast geschlossen in den Westen, wo sie fortan als SC Union 06 weiterspielten. Die Ost-Unioner standen auf einmal ohne ihr erstes Team da und durften nur dank einer Intervention des Dachverbands in der Oberliga verbleiben.
Die Hertha schien zunächst von der deutschen Teilung zu profitieren. Denn der Verein ging 1950/51 eine Spielgemeinschaft mit geflohenen Spielern aus Dresden ein, doch die zusammengewürfelte Mannschaft zerstritt sich schnell. Die Dresdner zogen weiter, die Hertha stieg zwei Jahre später ab. Der Mauerbau im August 1961 traf den Verein dann schwer. Wichtige Spieler wie Klaus Taube blieben auf der anderen Seite zurück. Der Stürmer, der in 146 Spielen 78 Tore erzielt hatte, sollte nie mehr für die Hertha auflaufen. Außerdem verlor der Verein über Nacht einen großen Teil seiner Anhänger, von denen viele in den östlichen Bezirken Friedrichshain, Prenzlauer Berg und Mitte wohnten.
Im eingemauerten West-Berlin feierte die Hertha in den 1970er Jahren Erfolge, wurde 1975 Vizemeister und stand 1977 und 1979 im DFB-Pokal-Finale. In diese Zeit fallen auch die letzten Berliner Bundesliga-Derbys, als der Charlottenburger Rivale Tennis Borussia zwei Saisonen erstklassig spielte. Doch Ende der 1970er Jahre ging es für die Hertha zusehends bergab, 1980 folgte der Abstieg, sechs Jahre später rutschte der Verein bis in die drittklassige Amateuroberliga Berlin ab. Es ist eine Zeit, unter der die Hertha noch heute leidet. „Da ist eine ganze Fangeneration verloren gegangen“, sagt Stefan Hermanns. Während mit Thomas Häßler und Pierre Littbarski zwei West-Berliner Talente in der Fremde zu Teamspielern und Weltmeistern wurden, versank der größte Klub der „Mauerstadt“ in der Bedeutungslosigkeit.
Hauptstadtfeindlichkeit
„Eigentlich kann man von der Hertha, wie es sie heute gibt, erst seit dem Aufstieg 1997 sprechen“, sagt Bert Rebhandl. Er stammt aus Kirchdorf an der Krems, studierte in Wien und kam nach Berlin, als die Hertha gerade in die Bundesliga zurückgekehrt war. Besser bekannt ist er in Fußballkreisen unter seinem Bloggernamen „Marxelinho“ – eine Reminiszenz an die früheren Hertha-Spieler Marcelinho und Thorben Marx. „In Berlin habe ich erkannt, was es bedeutet, einen Verein in der Stadt zu haben, der oben mitspielt“, sagt er.
Berlin sei auf keinen Fall eine Fußballstadt, findet auch er. „Es ist nicht mal eine sportaffine Stadt.“ Hertha und Union seien Randerscheinungen. „In einer Fernsehserie wie ‚Babylon Berlin‘ steckt mehr Hauptstadtmythos als in diesem Derby.“ Dennoch sei das Bild vom arroganten Hauptstadtklub falsch: „Die Hertha wird unterschätzt. Der Support in der Ostkurve ist einer der besten der Bundesliga.“ Hertha leide darunter, dass es in Deutschland einen hauptstadtfeindlichen Affekt gebe, nach dem Motto: Die stecken nur das Geld ein. „Deutschland wird mit Berlin nicht wirklich warm“, sagt Rebhandl.
Die Hertha sei ein bisschen wie ihre musikalisch wenig einnehmende Hymne, meint der Fan. „Ich hätte auch lieber so etwas wie ‚You’ll Never Walk Alone‘ statt dieser ziemlich beknackten ‚Sailing‘-Version von Frank Zander. Aber es ist halt unsere Hymne.“ Seit mehr als einem Vierteljahrhundert wird diese vor den Heimspielen im Olympiastadion gespielt. Aus den Lautsprechern erklingt dann der röchelnde Gesang von Frank Zander, und die Fans stimmen zur Melodie von Rod Stewarts „I Am Sailing“ ein: „Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause geh’n wa nich!“ Im Sommer 2018 wollte Hertha etwas Neues ausprobieren und ersetzte die Hymne durch den Song „Dickes B“ der Berliner Ska-Band Seeed. Das sei zeitgemäßer und ein Lied, „mit dem sich jede Berlinerin und jeder Berliner identifizieren kann“, wie es hieß. Die aktiven Fans liefen Sturm, bis sich die Hertha-Führung besann und fortan wieder Zanders Reibeisenstimme ertönte.
Am Rande vom Niemandsland
So schlicht und widersinnig das Lied auch sein mag, denn warum sollte man nach Hause gehen, bevor das Spiel überhaupt angepfiffen ist, verrät es doch viel über Herthas Seelenleben. Denn im Grunde ist das die große Frage, die der Verein sich selbst nie so richtig beantworten konnte: Wo sind wir zu Hause?
Allzu oft hat Berlins größter Klub die Spielstätten gewechselt. Wo die Hertha herkommt, ist belegt. Auf einer Parkbank am Arkonaplatz im Prenzlauer Berg riefen vier Jugendliche 1892 den Berliner Fussball Club Hertha 1892 ins Leben. Der heute gentrifizierte Bezirk Prenzlauer Berg war damals noch ein Arbeiterviertel. Seine erste Spielstätte fand der junge Verein auf einem nahegelegenen Exerzierplatz, dem „Exer“, auf dem alle Klubs des Berliner Nordens spielten.
Während Union seit der Einweihung der Sportanlage vor gut 100 Jahren an der Alten Försterei spielt, hat Hertha BSC eine Odyssee durch halb Berlin hinter sich. Vom „Exer“ in Prenzlauer Berg über die „Plumpe“ am Gesundbrunnen, wo die Hertha von 1926 bis 1931 sechsmal in Folge das Finale um die Deutsche Meisterschaft erreichte und zweimal gewann, ging es 1963 mit der Gründung der Bundesliga tief in den Westen: nach Charlottenburg ins Olympiastadion. „Die Hertha hat ihre Heimat mit der ‚Plumpe‘ verloren“, sagt Stefan Hermanns. Seitdem spiele der Verein quasi auf exterritorialem Gebiet. „Sie sind zwar nicht ganz in the middle of nowhere, aber schon am Rande zum Niemandsland.“ Blogger Rebhandl sieht das ähnlich: „Hertha ist ein Provinzverein, der in einem ziemlich großen Stadion gelandet ist.“
Fremd im eigenen Haus
Der frühere Hertha-Trainer Jürgen Röber hat einmal gesagt, das Olympiastadion sei nur beeindruckend, wenn es ganz leer oder ausverkauft ist. Bei den Heimspielen von Hertha BSC ist es meistens halb gefüllt. Nur an besonderen Tagen wird es wirklich voll, und das in erster Linie nicht wegen des Heimvereins, sondern wegen des Gegners.
Hertha BSC ist der letzte Bundesligist, der noch in einem Stadion mit Laufbahn spielt. Seit Jahren bemüht sich der Klub deshalb um ein reines Fußballstadion. „Steil, nah, laut“ soll es sein. 2017 ließ der Verein eine Machbarkeitsstudie erstellen. Auf dem Olympiagelände sollte ein neues Stadion für 50.000 Zuschauer entstehen, allerdings waren bei der Planung 24 Wohnungen übersehen worden, die dem Neubau hätten weichen müssen. Bis heute konnten sich die Hertha und die Stadt nicht über die weitere Vorgehensweise einigen. Das ist durchaus im Interesse der Stadt. Sie will, dass die Hertha weiter als wichtigste Mieterin im Olympiastadion spielt. So blieb es bislang bei Plänen. Der Vorschlag der Vereinsführung, nach Brandenburg auszuweichen, etwa ins elf Kilometer südlich von Berlin gelegene Ludwigsfelde, wurde von der Basis abgelehnt. Präsident Werner Gegenbauer sagte Anfang September im Interview mit der Berliner Morgenpost: „Der Auftrag der Hertha-Mitglieder an mich als Hertha-Präsident ist eindeutig: Es geht um einen Standort in Berlin.“
Für die Außendarstellung war es allerdings nicht besonders hilfreich, dass der Verein bereits symbolische Einladungskarten für die Stadioneröffnung im Sommer 2025 verteilt hatte. Um die verwirklichen zu können, müsste die Hertha laut eigenen Angaben bis Ende 2019 mit dem Bau beginnen. „Langsam wird es eng“, sagt Journalist Hermanns.
Die Hertha wird also wohl noch ein paar Jahre im Olympiastadion spielen. Der 1. FC Union Berlin hat mit seiner Alten Försterei ganz andere Sorgen. Sie ist längst zu klein geworden. Nur 22.000 passen dort hinein, sodass nicht einmal alle Union-Mitglieder die Garantie haben, auch ein Heimspiel ihres Klubs sehen zu können. 11.500 Dauerkarten vergibt der Verein jährlich, sodass sich rund 21.000 Mitglieder um 6.000 Tageskarten streiten müssen. Geplant ist ein Ausbau in den nächsten Jahren auf 37.000, die meisten davon Stehplätze.
Köpenicker Gedenken
Während das Olympiastadion ein Sinnbild für die Suche der Hertha nach der eigenen Identität ist, steht die Alte Försterei für das Engagement der Unioner. Das Stadion sagt viel über den Klub, vielleicht ist es sogar ein Nachhall der DDR. So wie die Ost-Berliner in zahlreichen mehr oder weniger freiwilligen Aufbaustunden ganze Alleen und den größten Tierpark Europas aus dem Boden stampften, halfen Unions Fans vor zehn Jahren mit, das Stadion von Grund auf zu renovieren. 2.000 Freiwillige erneuerten in 140.000 Arbeitsstunden die Stehränge, legten Leitungen und montierten Wellenbrecher.
Viele Vereine seien neidisch auf Union und würden sich deswegen despektierlich äußern, sagt Matthias Koch. Er arbeitet als freier Sportjournalist und Fotograf in Berlin und hat mehrere Bücher über Union geschrieben. „Die Fanszene ist schon besonders“, sagt er. Ein Beispiel für die Verbundenheit von Fans und Verein lieferte Union bei seinem Bundesliga-Debüt am 18. August. Auf den Rängen waren zahlreiche Doppelhalter mit schwarz-weißen Porträts zu sehen: Fotos von verstorbenen Union-Anhängern, die Angehörige und Freunde mit ins Stadion gebracht hatten. Die Aktion „Endlich dabei“ war eine Geste für all jene, die diesen historischen Moment nicht mehr erleben konnten. Für den Preis einer Stehplatzkarte konnten die Fotos auf einer Website hochgeladen werden, der Verein ließ die Banner drucken. 455 Fans beteiligten sich, die Toten fanden Eingang in die offizielle Zuschauerzahl.
Das erste Bundesliga-Spiel zeigte noch eine weitere Facette des Union-Anhangs – den Protest gegen die Kommerzialisierung. Denn es ging gegen RB Leipzig, nach dem Selbstverständnis der aktiven Fans das Gegenteil von allem, wofür ihr Verein steht. Für die erste Viertelstunde hatten sie einen Stimmungsboykott angekündigt, was in der Mannschaft geteilte Meinungen hervorrief. Die Haltung der Fans müsse man respektieren, sagte Kapitän Christopher Trimmel. Tormann Rafal Gikiewicz hingegen äußerte Kritik. „Wir brauchen eure Euphorie, eure Gesänge“, schrieb er auf Instagram. Die Partie ging 0:3 verloren.
Fabelhafter Underdog
Bereits in der zweiten Liga hatten nicht nur die Fans, sondern auch die Vereinsführung von Union klar Stellung bezogen – gegen RB Leipzig, aber auch für die 50+1-Regelung. Im Oktober 2018 veröffentlichte der Klub ein Statement für einen Kurswechsel im deutschen Profifußball und forderte Gehaltsobergrenzen, eine gerechtere Verteilung der TV-Gelder und mehr Fanbeteiligung. Aus Sicht vieler Fans schließt das Union von heute damit an die Geschichte des Vereins in der DDR an. Damals hatte Union stets das Nachsehen gegenüber dem BFC Dynamo. Der Lieblingsklub von Stasi-Chef Erich Mielke wurde von 1979 bis 1988 zehnmal in Folge Meister. Union sah sich als Antagonist zum „Schiebermeister“, als unterdrückter Außenseiter, der tendenziell regimekritisch war. Doch einiges hakt an diesem Selbstbild. „Union ist nicht der Underdog, wie viele immer wieder behaupten“, sagt Koch. „Der Klub ist zwar bei Weitem nicht so stark gefördert worden wie die regelmäßigen Europacupteilnehmer vom BFC, aus Magdeburg, Jena und Leipzig. Dass sich bei Union nur Widerständler versammelt hätten, gehört aber ins Reich der Fabeln.“
Während Union Berlin in der DDR eine Fahrstuhlmannschaft war, hat der Verein in den vergangenen Jahren einen beeindruckenden Aufstieg hingelegt. Innerhalb von 14 Jahren ging es von der vierten in die erste Liga. Dabei waren die Nachwendejahre zunächst von finanziellen Problemen, Fandemonstrationen und Beinahe-Insolvenzen geprägt. „Die Kassiererinnen haben sich die Eintrittsgelder in die BHs gesteckt, damit das Finanzamt nichts davon abbekommt“, sagt Koch. Auf den Rängen zeigte sich zudem ein offen zur Schau getragener Rassismus, wenn es etwa gegen Teams wie Türkiyemspor Berlin ging. Ein Thema, das heute eher selten zur Sprache kommt und als Phänomen lieber dem verhassten Rivalen von einst, dem BFC Dynamo, angehängt wird.
Kultkapital
Medial wird der Bundesliga-Debütant nach der erfolgreichen Relegation gegen den VfB Stuttgart als „Kultklub“ gefeiert. Die Aufstiegsfeierlichkeiten lieferten dankbare Bilder für eine Liga, die an der eigenen Langeweile leidet: Fans, die den Aufstieg auf dem Tor sitzend feiern; eine Bootsfahrt der Mannschaft auf der Spree Richtung Köpenick am folgenden Tag und schließlich eine große Party im Stadion.
Auch wenn sie in Köpenick nicht gerne auf den Titel „Kultklub“ angesprochen werden, versuchen sie, sich als etwas anderer Profiverein darzustellen. 2010 sagte Union-Präsident Zingler im Deutschlandfunk: „Wir gehen nicht in diesen Kapitalwettstreit, weil wir den am Ende nur verlieren können, sondern wir wollen ein einzigartiges Produkt anbieten.“ Die Bezeichnung Kultklub sei schön, selbst verwenden würde man sie aber nicht. Anscheinend ist sich jedoch auch Zingler bewusst, dass ein Sonderweg auf einem schmalen Grat verläuft. Im Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg sagte er im August: „Wir sollten darauf achten, dass uns von außen kein Heiligenschein aufgesetzt wird. Also wir sind nicht wirklich so viel anders als andere Profivereine.“ So hat der Verein im Kapitalwettstreit auch einiges investiert. „In den letzten Jahren sind Millionen verbrannt worden“, sagt Koch. Man habe alles auf eine Karte gesetzt und den Aufstieg angestrebt. Dabei waren viele Fans zwischen Aufstiegseuphorie und Traditionsbewusstsein hin und hergerissen. Als die Bundesliga 2017 schon einmal zum Greifen nahe schien, sangen sie: „Scheiße, wir steigen auf!“
Eine große Erzählung
Nun sind sie da. Und treffen wieder auf Hertha BSC, den einstigen Freund in der Ferne. „Manche Alt-Unioner sind genervt von den aktuellen Entwicklungen“, sagt Koch. „Und die Jüngeren wollen nichts mehr von der Fanfreundschaft aus Zeiten der Teilung wissen. Der Verein ist im Wandel.“ Das Derby sei für Union eine Chance zu beweisen, dass der Abstand zur Hertha nicht mehr so groß ist. „30 Jahre nach der Wiedervereinigung herrscht eine Riesenaufmerksamkeit.“
Die wird es auch brauchen, wenn Berlin eine international bedeutsame Fußballstadt werden will. Dafür ist ein Derby Voraussetzung, denn das wird auch in Zukunft wohl der einzige Moment bleiben, in dem die gesamte Stadt den Fußball für sich entdeckt. Weil jeder Klub allein genommen zu klein für Berlin ist. Der Fußball bleibt in der Hauptstadt etwas für besondere Anlässe, für große Turniere, Pokalfinale – und vielleicht auch für ein Erstligaderby.
„Ein Derby ist die stetige Fortsetzung einer großen Erzählung“, sagt Hertha-Blogger Bert Rebhandl. Durch seine jahrzehntelange Unmöglichkeit habe das Duell das Potenzial, ganz besonders zu werden. „Die deutsche Wiedervereinigung war ein weltpolitischer Erfolg“, sagt Rebhandl. „Und es wäre schön, wenn beide Klubs diese Erzählung, die 1990 begonnen hat, am Platz weiter erzählen könnten.“ Wer auch immer das Derby gewinnt – ein Sieger steht schon vorher fest – die Stadt. Und womöglich liegt Herthas Marketingabteilung am Ende mit einem ihrer vielen Slogans doch noch richtig: „Die Zukunft gehört Berlin.“
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