Ob die Geschichte eines Klubs eher zum Epos oder zur Tragödie taugt, hängt oft vom Blickwinkel und dem Zeitpunkt der Betrachtung ab. An diesem Sonntag im Mai 2021 gegen 16 Uhr wirkt es so, als füge der FC Hansa Rostock seiner wechselvollen Chronik eine weitere Episode des Scheiterns hinzu. Viele der rund 600 Fans scheinen damit zu rechnen, dass es auch dieses Mal schiefgeht. Drinnen im Ostseestadion müht sich die Mannschaft seit fast 90 Minuten, die Zwickauer Abwehr zu knacken. Draußen hängen die Anhänger am Fanradio. Noch einmal greift Hansa an, ein Pass in den freien Raum – „Und wer steht da?“, ruft der Kommentator. „Keiner!“ Dutzende Hände krallen sich in Absperrgitter, allgemeines Aufstöhnen.
„Keiner“, wiederholt „Locher“ , der etwas abseits steht. „Das ist typisch Hansa. Man gewöhnt sich daran.“ „Locher“, ein untersetzter Mann mit kahl rasiertem Kopf und dem Gleichmut eines Menschen, den nichts so leicht aus der Ruhe bringt, steht schon seit den 1980er Jahren hier. „Ich bin Hansa-Fan“, sagt er und begründet es ebenso klar wie entwaffnend: „Ich stehe nicht so auf Erfolg.“ Dabei hat er miterlebt, wie Hansa 1991 zum ersten Mal die Meisterschaft und den Cup der untergehenden DDR gewann; wie Hansa ab Mitte der 1990er zehn Jahre lang in der Bundesliga spielte und zum erfolgreichsten ostdeutschen Klub im wiedervereinten Deutschland wurde. Aber das ist alles weit weg und zählt nicht kurz vor Abpfiff an diesem 36. Spieltag der dritten Liga.Das Spiel gegen den FSV Zwickau ist ein besonderes, denn es vereint in sich Anfang und Ende des DDR-Fußballs. Es ist das Duell des ersten Meisters gegen den letzten: 1950 gewann die ZSG Horch Zwickau den Titel, 41 Jahre später der FC Hansa Rostock. 400 Kilometer liegen zwischen den beiden Städten, die das untergegangene Land in seiner ganzen Ausdehnung durchmessen. Und im Grunde ist es doch ein Derby. Denn einst trennten die beiden Klubs nur 30 Kilometer.
Empor ans Meer
Die Wurzeln von Hansa Rostock liegen in Sachsen, genauer gesagt im 8.000-Einwohner-Städtchen Lauter, südöstlich von Zwickau. Um den Leistungssport zu fördern, ließ die DDR 1954 in den einzelnen Bezirken Sportklubs gründen. Diese waren verschiedenen Trägern wie Fabriken, Gewerkschaften und Ministerien zugeteilt. So unterstand die Sportorganisation Empor dem Handel und der Nahrungsmittelindustrie und wurde in Rostock, der größten Hafenstadt des Landes, vom Fischkombinat getragen.
Mit dem neu errichteten Ostseestadion gab es auch schon ein Stadion für 18.000 Zuschauer. Was fehlte, war eine Fußballmannschaft. Die beste Empor-Mannschaft, die BSG Empor Lauter, spielte 400 Kilometer weiter südlich im Erzgebirge und führte überraschend die Oberliga an. Da sich die Klubs im Süden der Republik ballten und es nördlich von Berlin kein Oberliga-Team gab, wurde Empor Lauter während der Saison einfach an die Küste versetzt.
Mehrere Spieler weigerten sich anfangs, Lauterer Bürger protestierten ebenfalls, doch im November 1954 zogen zwölf Fußballer samt Trainer in den Norden und spielten von nun an als Empor Rostock. Zum ersten Heimspiel – einem 0:0 gegen Aufsteiger Chemie Karl-Marx-Stadt – kamen 17.000 Zuschauer: „Rostock war von seinen neugewonnenen Lieblingen ehrlich begeistert“, schrieb Die Neue Fußball-Woche. „Allen Unkenrufen zum Trotz hat die neue Klubmannschaft Empor in Rostock festen Fuß gefasst und denkt gar nicht daran, in der neuen Heimat mit einer Krise zu beginnen.“
Am Saisonende wurde das Team Neunter und erreichte das Finale im FDGB-Pokal. Die Saison darauf beendete Rostock als Zweiter, stieg ein Jahr später ab und sofort wieder auf. Danach etablierte sich die Mannschaft in der Oberliga und erwarb sich mit drei Vizemeistertiteln in Serie sowie zwei weiteren verlorenen Cupfinale den Ruf des ewigen Zweiten.
Unter neuer Flagge zu alten Ufern
Mitte der 1960er Jahre erfasste die nächste Umstrukturierung die Klubs von Rostock bis Zwickau. Der Fußball steckte in der DDR in der Krise, international war er kaum konkurrenzfähig. Das spielerische Niveau stagnierte. Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs war 1963 die Bundesliga gegründet worden, westdeutsche Klubs feierten international erste Erfolge. Um vor der WM 1974 in der BRD nicht den Anschluss zu verlieren, wurden die Fußballabteilungen aus den bestehenden Sportklubs herausgelöst. Pro Bezirk sollte es einen besonders geförderten Klub geben. Der erste entstand am 22. Dezember 1965 mit dem 1. FC Magdeburg. Eine Woche später, am 28. Dezember, ging aus dem SC Empor der FC Hansa Rostock hervor. Als Träger diente nun das Kombinat Seeverkehr und Hafenwirtschaft, bei dem die Spieler angestellt waren.
Das neue System trug allmählich Früchte. 1974 holte der 1. FC Magdeburg den Cup der Cupsieger, im selben Jahr schlug die DDR den großen Rivalen BRD in der WM-Vorrunde 1:0. Zwei Jahre später gewann das Olympiateam in Montreal die Goldmedaille. Nur in Rostock wollte sich der Erfolg nicht so recht einstellen. Hansa verlor zwei weitere Cupfinale und stieg bis 1986 viermal ab und wieder auf. Und jedes Mal verlor der Verein wichtige Spieler. Wie Torjäger Joachim Streich, der 1975 nach Magdeburg wechselte, und Thomas Doll, der 1986 zum BFC Dynamo ging.
Viele Fans, kein Titel
Während Streich und Doll mit ihren neuen Klubs Titel sammelten, konnte sich Hansa zumindest des Zuspruchs seiner Fans sicher sein. Sportlich pendelte die Mannschaft zwischen Oberliga und der zweitklassigen DDR-Liga, aber bei den Zuschauerzahlen landete der Klub meist auf den vorderen Plätzen, oft direkt hinter dem großen Zuschauermagneten Dynamo Dresden.
„Zahlenmäßig waren wir immer gut mit Zuschauern“, sagt Fan „Eisern“ am Rande des Zwickau-Spiels. „Eisern“, ein kantiger Mann Anfang 50, mit Lederjacke und Castro-Mütze, war schon mit sechs Jahren im Ostseestadion. Seine älteste Erinnerung stammt aus dem November 1980, ein 6:2-Sieg gegen Stahl Riesa: „Es hat nach Bratwurst, Besoffenen und Erbrochenem gerochen.“