Die Wanne kocht. Dichte Rauchschwaden vom Feuer zahlreicher Bengalen wabern durch den Rotterdamer Nachthimmel. Es dauert einige Minuten, bis der Wind sie fortträgt und den Blick auf das Spielfeld freigibt. Auf dem Rasen vom De Kuip – auf Deutsch „die Wanne“ – erleben die Fans anschließend ein spektakuläres 3:2 ihrer Mannschaft gegen Olympique Marseille. Noch bevor sie das Feuer entfacht haben, haben die Fans eine Choreografie über die gesamte Breite der Heimkurve entrollt: In der Mitte das Gesicht von Freddy Krueger, dem Serienkiller aus den „Nightmare“-Horrorfilmen, der seine Opfer im Traum heimsucht und ermordet. Daneben in weißen Lettern auf schwarzem Grund: „Never stop dreaming!“ Dank des 0:0 im Rückspiel eine Woche später schafft Feyenoord den Einzug ins Finale der Conference League. 52 Jahre nach ihrem ersten und 20 Jahre nach ihrem letzten Europacuptriumph träumen die Rotterdamer wieder davon, die Ersten zu sein.
Die Freddy-Krueger-Choreo ist auch eine Reminiszenz an die Musikgeschichte der Stadt. Hier entstand vor rund 30 Jahren Gabber, eine Form des Hardcore-Technos. DJs wie Paul Elstak brachten ihn in die Clubs, ins Parkzicht und Energiehal. Die „Nightmare in Rotterdam“-Partys dort – mit Freddy Krueger als Maskottchen – prägten den Sound der Stadt und des Stadions. Elstaks blecherner, stakkatohafter Track „Rotterdam Hooligan“ gehört bis heute zum Klang des De Kuip. Der Albtraummörder Freddy Krueger passt zum Gehabe der Feyenoord-Fans, die ihren Ruf als Bösewichte auf sarkastische Weise pflegen. Sie wissen, dass auch schöne Träume trügerisch sein können. Denn allzu oft folgt ein böses Erwachen.
Eine Stadt, zwei Gewissheiten
Feyenoord ist ein Verein mit zwei Gesichtern. Und Rotterdam eine Stadt mit zwei Gewissheiten. Die erste lautet: Hier, am größten Hafen Europas, nehmen Geschichten ihren Anfang. Wie die Niederlande in Europa als Pionierland gelten, nimmt Rotterdam Entwicklungen vorweg, die woanders im Land folgen: 1968 fuhr hier die erste Metro der Niederlande, 1970 gewann Feyenoord als erster niederländischer Klub einen Europacup. In den frühen 1990er Jahren startete Gabber von hier aus seinen Siegeszug durch das Land. Anfang des Jahrtausends sagte mit Pim Fortuyn der erste niederländische Rechtspopulist dem Establishment den Kampf an. 2009 wurde mit Ahmed Aboutaleb erstmals ein Politiker mit Migrationsgeschichte Bürgermeister einer westeuropäischen Großstadt.
Die zweite Gewissheit lautet: Wenn hier etwas schiefläuft, dann endet es meist in der Katastrophe. 1940 wurde Rotterdam als erste niederländische Stadt von der deutschen Luftwaffe angegriffen und in Schutt und Asche gelegt. 1953 forderte eine große Sturmflut, die heute noch de ramp, das Unglück, genannt wird, zahlreiche Tote in der Region. Manchmal folgen Trauma und Triumph dicht aufeinander. Wie im Mai 2002. Als Feyenoord im eigenen Stadion den UEFA-Cup gegen Borussia Dortmund gewann, lief die Mannschaft mit Trauerflor auf. Zwei Tage zuvor hatte ein Attentäter Fortuyn erschossen. Der hatte gerade erst die Kommunalwahlen gewonnen und sich angeschickt, diesen Erfolg bei den Parlamentswahlen zu wiederholen. Die politischen Folgen des Attentats – ein Rechtsruck und große gesellschaftliche Verunsicherung – prägen die Niederlande bis heute. Und es begann in Rotterdam.
Poet und Supporter
Mark Boninsegna hatte einen Typhus-Hass auf Fortuyn, wie er sagt. So verleiht man im Niederländischen gerne dem Ausmaß seiner Abneigung Ausdruck. „Aber sterben sollte er dann doch nicht“, fügt er hinzu. Boninsegna war zu jener Zeit Mitte 20. Aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie in einem Vorort und mit einer flammenden Leidenschaft für Feyenoord, zog er später zu seinem älteren Bruder in die Stadt. Er beschreibt sich selbst als Supporter. Ein Fan sei er nicht, „denn Fans stellen keine Fragen“. Dass Fortuyn ihm ein Gräuel war, ist klar: Neben Feyenoord mag er linke Klubs wie Sankt Pauli, Livorno und Rayo Vallecano. Heute ist Boninsegna als Feyenoord-Dichter bekannt. Das heißt, eigentlich ist er ein Schriftsteller, der seine Lyrik über alles Mögliche schreibt, aber eben auch – im Fanzine Hand in Hand – über die Stadt und diesen Klub, dem er mitsamt tätowierter Haut und gegelten Haaren verfallen ist. Sein Schreibstil: genauso rau und direkt wie das Spiel seines Teams. Die Knöchel seiner linken Hand zieren nicht Stereotype wie „Love“, „Hate“ und „Punk“, sondern das Wort „Poet“.
Will man Boninsegna vor den Spielen treffen, muss man im Bezirk Feijenoord nach einem blau-gelben Papagei Ausschau halten. Man findet ihn an der offenstehenden Glastür des Café de Ara, anderthalb Kilometer Luftlinie entfernt vom De Kuip, am Groene Hilledijk. Das ist eine dieser schnurgeraden, langen Straßen quer durchs Viertel, an denen sich türkische Bäcker, arabische Brautmodenläden, günstige Handyshops und 24-Stunden-Snackbars in gleichförmigen Lokalen aneinanderreihen. Dazwischen hängen immer wieder riesige Fahnen mit dem Feyenoord-F. Das Zentrum mit seiner spektakulären neuen Architektur, das in den letzten Jahren einen Boom erlebte, ist hier, tief in Rotterdam-Süd, weit weg.
Faszination Feyenoord
Drinnen in der holzvertäfelten Papageienvoliere erwarten einen ganz andere Kaliber. Mit „Loco in Acapulco“ stimmen die „Four Tops“ die Besucher ein. An den Wänden ist alles in Rot und Weiß gehalten. Dort hängen Trikots und Wimpel mit der Aufschrift „Keine Worte, sondern Taten“, eine Zeile aus einem der vielen Vereinslieder, die zum lokalen Glaubensbekenntnis geworden ist. Auf Zeitungsausschnitten und Mannschaftsfotos sind die Europacupgewinner von 1970 mit ihrem Trainer Ernst Happel zu sehen, ebenso John De Wolf, der in den 1990er Jahren die blondeste Matte der Eredivisie trug und heute Co-Trainer ist, sowie der oft etwas apathisch wirkende Tormann Ed de Goey und Stürmer Pierre van Hooijdonk, dessen Tore Feyenoord 2002 den UEFA-Cup bescherten.
Die Stimmung im Lokal ist aufgekratzt. Stammgast Boninsegna kennt hier einen Haufen Leute, sodass die Biere mit schöner Regelmäßigkeit angerollt kommen wie eine Woge draußen im Atlantik, hinter der Maasvlakte, der riesigen Hafenerweiterung. Der Feyenoord-Poet berichtet, wie seine Liebe begann: Als Kind sah er auf dem Schwarz-Weiß-Fernseher seiner Eltern Aufnahmen eines Europacupspiels gegen Real Madrid von 1965. Es gab damals hektische Szenen und eine Rudelbildung nach einem Revanchefoul von Klubikone Coen Moulijn, gefolgt von den ebenso ikonischen Rufen des schockierten Reporters: „Coen, Coen, beherrsch dich! Jungs, das geht doch nicht. Was für ein abscheuliches Schauspiel.“ Beim kleinen Mark blieb etwas anderes hängen: „Es hat mich fasziniert, wie seine Mitspieler Coen in Schutz genommen haben, dass all diese Typen völlig wild geworden sind. Das ist meine erste Erinnerung.“