Auf einmal wurde es ganz still. Das gesamte Spiel über hatten Senegals Fans ihre Mannschaft mit Trommeln, Rasseln und Tröten unterstützt, doch in der 115. Minute pfiff Schiedsrichter Bamlak Tessema Elfmeter für Tunesien. Es wäre die große Chance auf den Ausgleich gewesen. Dann aber signalisierte Tessema, dass er den Videoassistenten zu Rate ziehen würde und in Senegals Kurve bäumten sich wieder leise Rhythmen auf. Wenig später, als der Schiedsrichter den Elfmeter schließlich zurücknahm, waren sie so laut, wie noch nie an diesem Abend. Das „Stadion des 30. Juni“ bebte. Danach passierte auf dem Feld nichts Nennenswertes mehr, Senegal verwaltete den Vorsprung. Unter die Klänge der Trommeln mischten sich Freudenschreie. Erstmals seit 2002 steht das Team wieder im Finale der Kontinentalmeisterschaft. „Das Match war unglaublich“, sagte Senegals Trainer, Aliou Cisse, nach dem Spiel. „Es wird in die Annalen des afrikanischen Fußballs eingehen.“
Mühsamer Beginn
Dabei deutete lange nichts auf einen denkwürdigen Abend hin. Senegals Fans mühten sich zu Beginn vergeblich, das Stadion in einen Hexenkessel zu verwandeln. Weit draußen vor Kairos Innenstadt, umgeben von Wüste, einem Gewerbegebiet und einer Autobahn, besuchten das Halbfinale nur knapp 6.000 Leute. Lediglich die Haupttribüne, auf deren Unterrang der senegalesische Anhang stand, war gut gefüllt. Überall sonst überwogen die leeren Sitze.
Auch das Spiel ließ sich Zeit, in Fahrt zu kommen. Die späteren Sieger dominierten die erste Halbzeit, wurden aber nur zwei Mal gefährlich. Nach einer halben Stunde traf Youssouf Sabaly die Stange, der Superstar des Teams, Sadio Mane, traf nach 38 Minuten das leere Tor nicht. Den tunesischen Torhüter Mouez Hassen hatte er schon umkurvt gehabt. Hinten ließ der Senegal wie gewohnt nichts zu. Erst ein Gegentor musste die Mannschaft im Laufe des Turniers verkraften, mittlerweile seit 431 Minuten gar keines mehr.
Rudelbildung auf der Tribüne
Doch das änderte sich nach Wiederbeginn. Tunesien wurde gefährlicher, wirklich mitreißend wurde die Partie eine knappe Viertelstunde vor Schluss. Das dann ausbrechende Chaos entschädigte für den müden Beginn. Es begann als Kalidou Koulibaly, hauptberuflich Innenverteidiger beim italienischen Vizemeister SSC Napoli und bester Innenverteidiger der Serie A, in einen Schuss von Ferjani Sassi rutschte. Aus kurzer Distanz klatschte der Ball Koulibaly an den Ellenbogen. Der Schiedsrichter pfiff erstmals Elfmeter und verwarnte den Schuldigen, der mit seinen langen, präzisen Pässen das ganze Turnier über für Gefahr gesorgt hatte. Er fehlt nach der Gelben Karte im Finale.
Dramatische Szenen spielten sich wenig später auch auf der Pressetribüne ab. Denn nachdem Sassi den Elfmeter kläglich vergab, kam es dort zum Tumult. Ein senegalesischer Journalist freute sich derart demonstrativ vor zwei tunesischen Kolleginnen, dass ein dritter einschritt. Der gestikulierte allerdings so vehement, dass auch der Senegalese bald Verstärkung hatte. Es entstand ein Handgemenge zwischen knapp 20 Leuten, die aneinander zerrten und mitunter zu Schlägen ausholten. Mittendrin auch ein Freiwilliger des Organisationskomitees, der mit immer schrillerer Stimme aufforderte, ruhig zu bleiben. Die umstehenden Securities versuchten indes, Neugierige am Fotografieren zu hindern. Nach knapp fünf Minuten kehrte aber dann doch wieder Ruhe ein. Verletzt wurde niemand.
Der Reiz des Fußballs
Die Lage hatte sich gerade entspannt, als der Schiedsrichter einen zweiten Elfer pfiff. Diesmal auf der anderen Seite. Nachdem Mane im Verlauf des Turniers bereits zwei Mal vom Punkt gescheitert war, versuchte sich Henri Saivet. Hassen aber kratzte mit den Fingerspitzen seinen Schuss aus der linken unteren Ecke. Es war die letzte große Chance in der regulären Spielzeit.
Erst gegen Ende der ersten Halbzeit der Verlängerung erhöhte der Senegal, der mittlerweile wieder die Kontrolle über das Geschehen errungen hatte, die Schlagzahl. In der 101. Minute belohnte sich Cissés Team dafür, oder besser: Es ließ sich belohnen. Nach einem Freistoß aus dem Halbfeld vom gescheiterten Elfmeterschützen Saivet glitt der Ball durch Hassens Arme. Von dort sprang der Ball auf den Kopf von Dylan Bronn und von dort ins Tor. Ein Zufallstor der Sonderklasse, oder wie es Cisse nach der Partie umschrieb: „Diese Überraschungen machen den Reiz des Fußballs aus. Manchmal haben wir keinen Einfluss darauf, was passiert.“
Für die Geschichtsbücher
Nachdem Schiedsrichter Tessema eine halbe Stunde später die zweite Halbzeit der Verlängerung abpfiff, stürmten Senegals Spieler zu ihren Fans. Cisse sank zu Boden und reckte beide Fäuste zum Himmel. Im Finale wartet nun Algerien, das im zweiten Halbfinale Nigeria durch ein Last-Minute-Tor von Riyad Mahrez 2:1 besiegte. Die Partie gab es bereits in der Gruppenphase, die Nordafrikaner gewannen mit 1:0. Sollte der Senegal den Spieß umdrehen können, wäre es der größte Erfolg in der Geschichte des Nationalteams. Noch nie hat das Land den Afrika Cup geholt. Trainer Cisse hätte wohl nichts dagegen, ein zweites Mal in die Annalen des afrikanischen Fußballs einzugehen.