Er ist die lang vermisste Identitätsfigur. Riccardo Bocalon ist in Venedig geboren und keine zehn Minuten vom Stadio Pierluigi Penzo entfernt aufgewachsen, seit zwei Jahren trägt er wieder das Venezia-Trikot. Von den Anhängern wird er „Doge“ genannt, so wie einst die Herrscher von Venedig. Und am 27. Mai 2021 kurz nach 23 Uhr sichert sich auch Bocalon seinen Eintrag in den Geschichtsbüchern der Stadt, als er in der letzten Minute der Nachspielzeit des Play-off-Finales gegen Cittadella das 1:1 erzielt. Nach dem 1:0-Auswärtssieg wenige Tage zuvor, steht der Venezia FC als letzter Aufsteiger in die Serie A fest.
Das Spiel findet pandemiebedingt ohne Zuschauer statt, trotzdem haben sich vor dem Stadion auf der Insel Sant’Elena rund 1.000 Fans versammelt, um den Klub anzufeuern. Nach Schlusspfiff verlagern sich die Feierlichkeiten auf den Markusplatz. Nicht wenige landen an diesem Abend freudetrunken in einem der 150 Kanäle der Stadt. Ein paar Tage später lassen sich die Spieler, unter ihnen der Wiener Innenverteidiger Michael Svoboda, auf einer Bootsfahrt über den Canale Grande feiern. Mit den Worten „Ghe sboro“ hat sich der eine oder andere Fan zwischendurch wohl ungläubig an den Kopf gegriffen. Es ist ein Ausdruck, der schwer zu übersetzen und am ehesten mit der Wendung „Oida“ vergleichbar ist. Ein Begriff, der für alles Mögliche steht und doch hervorragend all das beschreibt, was die Gefühlswelt so hergibt: Enttäuschung, Freude, Erstaunen, Raunzen oder noch besser völlige Ekstase ob eines Aufstiegs in allerletzter Sekunde. „Ghe sboro, Venedig spielt wieder in der Serie A!“
Das lange Warten
Rückblende in den Frühling 2002: Am 5. Mai spielt Veneziamestre, wie der Fusionsverein seit 1987 von den Fans genannt wird, das letzte Mal erstklassig. Die Mannschaft verliert in Parma 1:2 und steigt als Letzter ab. Im Sommer verscherbelt Präsident Maurizio Zamparini den Verein und übernimmt die US Palermo. Die folgenden Jahre verlaufen turbulent. Dreimal geht der Klub in Konkurs, pendelt unter wechselnden Besitzern und mit unterschiedlichen Namen zwischen zweiter und vierter Liga. 2015 übernimmt der Italoamerikaner Joe Tacopina, der als Anwalt Michael Jackson und Amanda Knox vertreten hat, den Klub und führt ihn endlich in ruhigeres Fahrwasser. Die großen Ziele, sprich den Bau eines Stadions am Festland und den Aufstieg in die höchste Spielklasse, erreicht er aber nicht. Im Frühjahr 2020 wird Tacopina vom Goldman-Sachs-Partner Duncan Niederauer an der Spitze des Klubs abgelöst. Er hat bekannte Pläne: Zuerst ein neues Stadion und dann der Aufstieg. Die Pandemie und das Tor von Bocalon wirbeln den Zeitplan durcheinander.
Als alle wieder nüchtern sind, wird ihnen klar, dass das 1913 erbaute Stadio Penzo völlig erstligauntauglich ist. Das Stadion ist das zweitälteste noch bespielte in Italien, nur das Marassi in Genua ging ein paar Jahre früher in Betrieb. Die zu erneuernde Flutlichtanlage ist das kleinste Problem, die Kapazität von rund 7.000 auf die geforderten 16.000 Zuschauer zu erhöhen, wird schon etwas schwieriger. Vor 20 Jahren standen hinter beiden Toren noch riesige Stahlrohrgebilde, die je 5.000 Leuten Platz boten. Heutzutage würde ein solches Provisorium aber nicht mehr genehmigt werden. Der Klub hofft auf eine Ausnahmebewilligung, wie sie zuletzt die Aufsteiger SPAL und Spezia erhielten. Beide mussten an ihren Stadien nachbessern und durften vorübergehend vor nur 10.000 Zuschauern spielen. Der Plan auf Sant’Elena sieht nun vor, die drei Stahlrohrtribünen ringsum zu vergrößern und die Trennzäune zum Spielfeld abzubauen, um die Kapazität auf 12.000 zu schrauben. Lediglich die Haupttribüne soll bleiben, wie sie ist. In einem zweiten Schritt soll nächstes Jahr der Ausbau auf 16.000 Plätze erfolgen. Irgendwann soll dann auch das neue Stadion stehen.
Ein Dach für die Kurve
Die Fans sind bei all den Ankündigungen skeptisch. Zu lange hören sie schon von hochtrabenden Stadionplänen, zu oft sind sie schon enttäuscht worden. Sie rechnen damit, dass die Arbeiten bis zum Saisonbeginn nicht fertiggestellt werden und sie die ersten Heimspiele im 110 Kilometer entfernten Ferrara austragen müssen. Danach werde das Stadion wohl sukzessiv ausgebaut und modernisiert werden. Der Standort auf Sant’Elena dürfte Romantikern erhalten bleiben, sagen ein paar Vertreter der Veneziamestre-Kurve dem ballesterer Anfang Juli am Rande einer Buchpräsentation, zu der die Gruppe „Ventisei Giugno 1987“ eingeladen hat.
Die Stimmung bei den Fans ist aufgrund des unverhofften Aufstiegs dennoch sehr gut. Sie seien ohne große Erwartungen und mit der Hoffnung auf einen sicheren Platz im Mittelfeld in die Saison gegangen, sagen sie. Selbst als sich seit Winter abzeichnete, dass die Mannschaft vorne mitspielen kann, hätten auch im Frühjahr nur die wenigsten mit dem Aufstieg gerechnet. Jetzt freuen sie sich besonders auf die Fahrten in den Süden – nach Neapel, wo Veneziamestre erst zweimal spielte, und zu den großen Rivalen nach Cagliari. Die Fanszene hat große Pläne, befürchtet aber, dass die Serie A etwas zu früh kommen könnte. In der Kurve kam es in den letzten Jahren immer wieder zu Konflikten zwischen den einzelnen Gruppen. Angesichts der Pandemie und unter dem Eindruck des sportlichen Erfolgs rückten sie zuletzt aber zusammen. Eine Art Dachorganisation soll das Zusammenleben in der Curva Sud nun erleichtern.
Den ehemaligen Präsidenten Tacopina, der in Bälde bei SPAL landen könnte, haben die Fans alles in allem in guter Erinnerung. Ihm gilt der Dank dafür, den Klub aus der Versenkung geholt zu haben. Dass er nur ein Übergangspräsident sein werde, also jemand, der Klubanteile kauft, um sie später gewinnbringend zu verkaufen, sei von Beginn an klar gewesen. Schließlich habe Tacopina das zuvor schon bei Bologna und der Roma gemacht. Auch mit der neuen Vereinsführung sind die Fans bisher zufrieden, nicht zuletzt weil sie ehemalige Vereinsgrößen wie Nicola Marangon und Paolo Poggi in den Klub integriert hat.
„Doge“ Bacalon stellte sich im Sommer hingegen ins Abseits. Nachdem er immer wieder öffentlich mit einem Wechsel spekulierte, wurde er vorübergehend aus dem Kader gestrichen. Sein Verbleib ist zu Redaktionsschluss ungewiss. Immerhin bei der Stadionsanierung bekam der Klub durch die Auslosung des Spielplans eine Schonfrist. Veneziamestre spielt die ersten drei Runden auswärts, Mitte September ist das erste Heimspiel, gegen Spezia, angesetzt. Wo es stattfinden wird, steht ebenso in den Sternen wie die Auslastungsgrenze der Stadien und die Zulassung von Auswärtsfans. Angesichts steigender Coronainfektionszahlen werden die Behörden wohl eher auf die Bremse steigen. Ghe sboro.